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gwyn

Posted on 13.3.2023

«Für viele Betroffene war eine Gesichtsverletzung erwartungsgemäß auch eine schwere psychische Belastung. Der Chirurg Fred Albee stellte fest: ‹das seelische Leid eines Mannes, der als Bild des Schreckens für sich selbst und andere durchs Leben gehen muss, lässt sich nicht mit Worten beschreiben.› ... ‹Es muss unvorstellbar grausam sein, sich nicht selbst wiederzuerkennen.›» Im Original heißt das Buch «The Facemaker» – was wesentlich passender ist. Der Horror passt weniger auf die enormen medizinischen Fortschritte, sondern auf den Ersten Weltkrieg. Wer die neue Verfilmung von «Im Westen nichts Neues» gesehen hat und den zu brutal empfand, der sollte von diesem erzählenden Sachbuch die Finger lassen. Plastische Chirurgie, die meisten verstehen heute darunter die Schönheitschirurgie. Aber vergessen wir nicht die Wichtigkeit, Menschen zu helfen, die durch diverse Umstände wie Unfälle, Brände, Kriege oder schlicht genetische Fehler eine Korrektur im Gesicht benötigen. Das beginnt z. B. mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, umgangssprachlich auch als Hasenscharte bekannt. «... das Problem, Gewebe von einer Stelle sicher auf die andere zu bringen ... In dieser Hinsicht war der Rundstillappen eher eine evolutionäre als eine revolutionäre Entwicklung in der Geschichte der plastischen Chirurgie, entstanden aus der Notsituation des Krieges.» Der Erste Weltkrieg, 1914 bis 1918, brachte neue Waffentechnik zum Einsatz: Flammenwerfer, Maschinengewehre, weit reichende Artilleriegeschosse, Bomben, Giftgas, Panzer, Flugzeuge, U-Boote. Die Taktik hieß Sturmangriff!, drauf auf den Feind, komme, was wolle. Gegenseitig wurden reihenweise Soldaten niedergemäht, in einem nie gekannten Ausmaß. Materialschlachten, Technik gegen Technik, die sich natürlich während des Kriegs immer weiter entwickelte. Etwa 9.000.000 Soldaten verloren ihr Leben, mehr als doppelt so viele wurden verwundet, oft schwerverletzt. Dieses Buch handelt von denen, die überlebten und im Kampf ihr Gesicht verloren. Durchschüsse durch den Kiefer, der diesen zerfetzte, Verbrennungen, zerlöcherte Gesichter, aus denen Flüssigkeiten tropften, Ein Loch, wo früher sich ein Auge befand, ein offenes Hirn, Menschen, die kaum oder gar nicht sprechen konnten, Schwierigkeiten mit dem Atmen, Essen und Trinken hatten. Als der Arzt Harold Gillies die Verheerungen des Ersten Weltkriegs erlebt, ist er schockiert. Zu viele junge Männer werden nach nur einem falschen Augenblick ihrem Schicksal überlassen: für immer entstellt, für immer Monster in den Augen der Gesellschaft. «Die Heilkunde stand der Wissenschaft der Zerstörung ratlos gegenüber.» Wer ein Bein oder einen Arm verloren hatte, dem wurde mit Mitgefühl begegnet. Entstellte Gesichter riefen Ekel bei den Mitmenschen hervor. Der junge Arzt setzte alles daran, einen Weg zu finden, um das Leiden zu verringern. «Zu den größten Herausforderungen zählte die Narkose. Gesichtsverletzungen führten häufig zu einer beeinträchtigten Atmung, zum Beispiel durch eine geschwollene Zunge oder eine geschwächte Kehlkopfmuskulatur. Die Gefahren waren besonders groß, wenn der Patient, wie unter Vollnarkose üblich, auf dem Rücken lag.» Der Chirurg ist ein Teamplayer, erkennt schnell, dass er Zahnmediziner benötigt, um Kiefer wiederherzustellen, Zahnprothesen zu erstellen. Gute Anästhesisten, Pflegepersonal, Künstler die Plastiken und Masken erstellen, zeichnen, um zu dokumentieren, zeichnen, um vor der OP eine Gesichtsrekonstruktion vorzubereiten. Haut muss verpflanzt werden, aber so, dass auch das Gewebe durchblutet wurde. Nasen werden rekonstruiert. Die Hauttransplantation erlebt einen Höhepunkt. Dem ersten Patienten von Gilles hat man das halbe Gesicht weggesprengt. «Die restliche Haut hing in Fetzen herunter, und die zu Brei zermalmten Kieferknochen fühlten sich an wie Sand.» Sein Leben wird zum Gründungsakt einer Disziplin, die unsere Gegenwart unmissverständlich prägt: plastische Chirurgie. Dank der ersten Erfolge stellt man Gills das Krankenhaus Queen's Hospital in Sidcup zur Verfügung, in das alle Gesichtsverletzten nach der Erstversorgung weitergeleitet werden. Das Team entwickelt sich weiter und findet immer neue Methoden, den Verletzten zu helfen. Auch die Möglichkeit der Bluttransfusion fällt in diese Zeit, die Bestimmung der Blutgruppen. «Der belgische Arzt Adolf Hustin fand heraus, dass sich die Blutgerinnung durch die Zugabe von Natriumcitrat hemmen ließ.» So konnte man Blutkonserven entwickeln. «Wir beide, deren Aufgabe es ist, Leben zu retten, sitzen hier umgeben von Männern, deren Aufgabe es ist, Leben zu zerstören.» Aber dieses Sachbuch ist mehr. Es ist parallel ein Geschichtsbuch zum Ersten Weltkrieg. Drastisch werden originale Situationen aus der Schlacht dargestellt, Soldatenschicksale von denen, die schwer verletzt geborgen werden konnten, die bei Gillies landeten. Lindsey Fitzharris zeigt auf, welche verheerenden Folgen neue Kriegswaffen nach sich zogen und benennt historische Ereignisse. «Männer, die mit heraushängenden Gedärmen, die schreiend im Stacheldraht hingen.» Ein spannendes erzählendes Sachbuch, voll geschichtlicher Ereignisse, eins das ein Denkmal für den Mediziner Harold Gillies setzt, für seine unermüdliche Art, immer bessere Ergebnisse zu erzielen, neue Methoden zu erfinden, um das Leid der Menschen zu lindern. Mit Sicherheit ist seine empathische Art, mit Patienten und Kollegen umzugehen, ein wichtiger Faktor in diesem Spiel. Ein Sachbuch, das das sich mit den Errungenschaften der Medizin auseinandersetzt, ebenso mit den Grauen des Kriegs. Lindsey Fitzharris promovierte in Oxford in Medizingeschichte. Ihre YouTube-Serie Under the Knife über Wissenswertes und Gruseliges aus der Welt der Chirurgie verhalf Fitzharris zu größerer Bekanntheit. Sie schreibt regelmäßig für The Guardian, The Huffington Post, The Lancet und New Scientist . Ihr Buch Der Horror der frühen Medizin war ein internationaler Erfolg, wurde in 15 Sprachen übersetzt und stand 19 Wochen lang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.

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