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Der erste Satz: «Marta hockt unter der Spüle, eingeklemmt zwischen dem Abflussrohr und den Putzmitteln.» Bologna, Grazia Negro liegt auf der Entbindungsstation, noch benommen von der Narkose des Kaiserschnitts. Sie ist nun Mutter von Zwillingen, verspürt keine Lust mehr, Mordfälle aufzuklären, Psychopathen zu jagen. Doch der Leguan, der Serienmörder Iguana, ist aus der psychiatrischen Einrichtung entflohen, hat seine Bewacher ermordet – und will sich an denjenigen rächen, die ihn hinter Gitter gebracht hat. Darum wird sie mit ihren Mädchen in ein Safehouse gebracht, und sie soll von dort aus die Ermittlung leiten. Grazia trifft dort auf Simone, ihren ehemaligen Lebensgefährten, der blind ist. Man nennt Iguana den Leguan, weil er sich wie ein Chamäleon anpasst, unauffällig agiert, bevor er zuschlägt – doch er ist blind. «Die Muskelfasern unter meiner Haut ... sie explodieren aufgrund einer Kraft, die löst und hebt, versteifen sich schmerzhaft, und all das bereitet mir Vergnügen. Ich habe das Gefühl, dass es mich gibt. Aber nicht draußen. Wo ich nicht mehr sein will.» Ich kannte die Vorgeschichte nicht, aber man kommt mit den vorhandenen Informationen heran. Dieser Thriller ist so erfrischend anders, ein literarischer Thriller, der sich weniger mit der kriminalistischen Suche nach den Täter auseinandersetzt, sondern mit den Ängsten der Protagonist:innen, auch den des Täters. Ein schizophrener Psychopath, der sich nach Liebe sehnt; eine zitternde Maus, eine Maus, die zubeißt mit spitzen Zähnen; an manchen Stellen bekommt man fast Mitleid mit diesem Individuum. Grazia Negro weiß, dass ein menschliches Monster meist selbst ein Opfer ist, versucht zu verstehen, zwischen Windelwechsel, Milchpumpen und Saugern. Doch das Team geht lange den falschen Weg. Ein gequälter Simon, ein völlig in sich selbst gekehrter Mensch, der wie besessen mit Hanteln seinen Körper trainiert, verlassen von Grazia, die sich nach der Trennung durch eine unbekannte Samenspende befruchten ließ. Nun müssen sie es zusammen in diesem Haus aushalten. «Liebe mich. Liebe mich. Liebe mich." Dieser Thriller ist fast ein Kammerspiel, könnte als Theaterstück aufgeführt werden. Trockene, überzeugende Prosa, kurze Zeitfenster, kurze Kapitel und verschiedne Stile und Tonalitäten zwischen den Kapiteln machen den literarischen Thriller zu etwas Besonderem. Die kurze Geschichte hält durchgehend die Spannung, die Charaktere sind präzise konstruiert. Ein Killer, getrieben von Verzweiflung und Wut mit dem alles verzehrenden und zerstörerischen Gefühl: Liebe mich! Empfehlung für diesen Noir-Thriller! «Doch jetzt, wo ich ihn keuchen höre, wo ich seine Angst mit meinen Mausezähnen einsauge, stelle ich fest, dass ich überhaupt gar keine Lust habe, ihn umzubringen. Ich bin nicht hinter ihm her.» Carlo Lucarelli, 1960 in Parma geboren, lebt bei Bologna. Er ist Schriftsteller, Journalist, Regisseur und Fernsehmoderator. International bekannt wurde er durch seine preisgekrönten und verfilmten Kriminalromane, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Mitbegründer des «Gruppo 13» und Lehrer an der «Scuola Holden» für kreatives Schreiben. Zuletzt erschienen bei Folio Bestie (2014), Italienische Intrige (2018), Hundechristus (2020) und Der schwärzeste Winter (2021).