Buchdoktor
Eine Ansichtskarte des norwegischen Jotunheimen-Gebirges, die 1945 nach Reichenbach/Schlesien geschrieben wurde, bringt Helen auf die Spur ihrer Familiengeschichte. Sie trifft dort Josse/Josef Tomulka, der 1925 unehelich geboren wurde und in Reichenbach aufwächst. Nach dem frühen Tod seiner Mutter lebt Josef bei den Großeltern. Zuhause und im Dorf erfährt er nicht enden wollende Ablehnung als unehelich Geborener. Als Wilhelm Reckzügel, ein Medizinstudent zu Besuch in seinem Elternhaus, sich Josef zuwendet, ihn fördert und für die Hitlerjungend begeistert, wird der Junge zum ersten Mal in seinem Leben wahrgenommen. Das märchenhafte Szenario eines Studenten aus einfachen Verhältnissen, der über grenzenlose Freizeit und unbeschränkte Mittel für Geschenke an Josef zu verfügen scheint, klingt anfangs wie das Lehrbeispiel einer Missbrauchssituation. Wilhelm hat sich ein vernachlässigtes Kind herausgepickt, für das sich niemand interessiert, ausgehungert nach Zuwendung und zu unbedingter Loyalität gegenüber seinem Förderer bereit. Radikalisierung und Indoktrination benötigen genau diese Loyalität. Der Medizinstudent ist entschlossen, seinen Heimatlandkreis vorbildlich im Sinne des Nationalsozialismus zu säubern. Josef wird zu Wilhelms Werkzeug, bespitzelt den gesamten Ort und erstattet Wilhelm Bericht über jedes fehlende Hitlerbild, jedes undeutsche Lied und jeden respektlosen Spruch - filmreif in einem toten Briefkasten. Als er sogar dem Handarbeitskränzchen nachspioniert, hört er von Zwangsarbeit, verschwundenen Menschen und fragt sich nicht zum ersten Mal, welche Rolle Werner in diesem System spielt und welche Rolle ihm als Werners Handlanger zugedacht ist. Ein Zusammentreffen Josefs damals mit Helens Urgroßmutter Else hat Helen nun nach Norwegen geführt. Josef braucht in der Gegenwart seine Zeit, um Helen über seine Kindheit, die erste Begegnung mit Wilhelm im Jahr seiner Einschulung 1931 zu erzählen, wie er sich den Ruf eines vertrauenswürdigen Kerls erwarb – und wie er schließlich als Einsiedler in einem abgelegenen norwegischen Bergtal landete. Aus der Rahmenhandlung in der Gegenwart heraus entfaltet Angelika Rehse eine spannende Spurensuche, die schon fast zu viele Details aus dem deutschen Alltag zwischen 1930-43 enthält. Da sehr viel Bekanntes genannt wurde, kam m. A. die Handlung zu langsam in Gang, konnte mich jedoch mit der Suche danach fesseln, was Wilhelm mit seinem verdächtigen Bündnis mit einem Minderjährigen bezweckte. Sehr angenehm fand ich, dass durch Jahreszahlen stets deutlich war, wie alt Josef zum genannten Zeitpunkt ist. So fällt natürlich auch auf, dass Wilhelms Gespräche mit einem Grundschulkind für die Epoche teils zu abgehoben wirken. Ein spannender, etwas zu märchenhafter Roman vor sorgfältig recherchiertem historischem Hintergrund.