gwyn
«Die Mauersegler kommen erst im Frühjahr zurück. Sie haben mich mit der ganzen Meute Mensch allein gelassen, die für mich so anstrengend ist und mich um den Verstand bringt. Ich habe gelesen, dass Mauersegler bis jenseits der Sahara fliegen, bis nach Uganda und so, und dass sie die meiste Zeit ihres Lebens in der Luft verbringen. Genau das, was ich mir auch wünschen würde: Nie am Boden sein, nie einen anderen berühren.» Erinnert sich jemand an den Roman «Patria», eine Familiengeschichte im Umfeld des Eta-Terrors? Eins meiner Lieblingsbücher. Nun hat Fernando Aramburu wieder ein gewaltiges Werk vorgelegt. Es ist die Geschichte von Toni, einem gymnasialen Philosophielehrer, der in Madrid lebt und zum 31. Juli seinen Suizid plant. Er ist ja gewissenhaft – nicht etwa mitten im Schuljahr ... Ein Machismo, Typ Mann der aussterbenden Rasse, der alles und jeden hasst. Nach seiner Scheidung lebt er allein mit seinem Hund, den Sohn hatte seine Frau mitgenommen. Am 31. Juli beginnt sein letztes Jahr, und dieser Roman hat 365 Kapitel, eins für jeden Tag; ein Nachlass für seinen Sohn Nikita, um sich und seine Gedanken zu erklären. «..dies hier habe ich ganz lustlos geschrieben, allein aus der Gewohnheit heraus, täglich ein paar Zeilen persönlicher Chronik für niemand aufzuschreiben.» Die ersten Monate sind für Toni geprägt von Erinnerungen an seine Familie in der wechselhaften spanischen Geschichte, Beobachtungen seiner Landsleute und Erlebnissen, die ihn in seiner Weltsicht bestärken. «Diese alte Frau war nicht mehr meine Mutter; höchstens noch die Hülle einer früheren Mutter, die verdorrte Puppe eines menschlichen Schmetterlings, der vor einiger Zeit davongeflogen war und dessen Lebenszyklus schon bald beendet sein würde.» Doch irgendwann trifft er auf Águeda, eine ehemalige Freundin, die ihm immer noch nachtrauert. Wird er seinen Plan durchführen? Der Roman ist nicht chronologisch – Toni springt vom täglichen Geschehen und in den Erinnerungen seines Lebens querbeet. Kindheit, Ehe, die Beziehung zu den Eltern, zum Bruder, zu Frau und Sohn – und zu seinem Freund Humpel (nur er nennt ihn heimlich so), der einzige Mensch, den er nicht hasst. Es ist auch ein Familienroman, Tonis dysfunktionale Familie, die Schwiegereltern, politische Entwicklungen im Land, Religion – und es geht um eine Männerfreundschaft. Seinen Freund nennt er heimlich Humpel, weil er am 11. März 2004 bei dem als 11-M bekannten islamistischen Attentaten auf Züge in Madrid, die fast 200 Tote forderten, ein Bein verlor. Franquisten, Konservative, Sozialisten, strenge Katholiken; Klimaaktivisten, Sprachterroristen – Themen, die fast jede spanische Familie durchziehen; sie auch zerbrechen können. Und Toni spuckt auf Francos Grab für seinen damals von den Franquisten gefolterten Vater. «Ich habe meine Eltern nie das Wort Liebe aussprechen hören. Liebe wurde nicht in Worte gefasst; sie wurde vorausgesetzt oder äußerte sich in Gesten und Taten. ... Mama verbrachte ganze Nachmittage damit, Anisplätzchen zu backen, Papa nahm uns mit ins Kino, irgendwann hörten sie auf uns zu schlagen, und all dies, nehme ich an, bedeutete Liebe. Ich habe den Verdacht, dass ich nicht lieben kann; dass ich es zwar anfange, es aber gleich wieder aufgebe, weil es mir zu mühsam ist, weil ich mich ablenken lasse oder es mir langweilig wird. Was für ein Jammer! Man hat mich gelehrt, Verben zu konjugieren, aber aktiv zu lieben, habe ich nicht gelernt, und ich fürchte, jetzt ist es zu spät dafür.» Toni, der jeden in seinem Umfeld hasst, die erfolgreiche Ex-Ehefrau Amalia, die ihn für eine Frau verlassen hat, der für ihn missratene Sohn mit Lernschwierigkeiten – ein erfolgloser Chaot – die Eltern und Schwiegereltern, der Bruder, Man mag keinen von Aramburus Protagonisten unbedingt kennenlernen. Vielleicht noch den Bruder Raoulito, den er gern bereits als Kind getötet hätte, der unter dem gewalttätigen Toni arg gelitten hat, dessen Tochter an einem Karzinom verstirbt; und die stets gut gelaunten Águeda, die Toni vor 27 Jahren für Amalia verlassen hatte, die ihn nie vergessen konnte und allen ihren Hunden den Namen Toni gab. Und nicht zu vergessen Tina, die lebensgroße Freundin aus Kunststoff – stumm, die ihn niemals kritisiert. Und es existiert ein anonymer Stalker, der Toni seit Jahren fiese Nachrichten in den Briefkasten wirft, sein Leben hinterfragt. War es Águeda? Toni, der einen Job hat, den er nicht mag, weder Schüler (bei einigen hat er Tötungsfantasien) noch Kollegen. Ein Mann, dem es eigentlich mehr oder weniger gut geht, der auch nicht unter Depressionen leidet – ein Mann der von Selbstmitleid zerfressen ist und sich an seinem Hass gegen sein Umfeld weidet. Sein Frauenbild ist das eines Machismo: Sie hat ihm stets willig zu sein und zu gehorchen. «Am liebsten hätte ich der alten Heuchlerin gratuliert und ihr gesagt: ‹Dein Enkel ist nicht getauft, deine Tochter ist Atheistin, schläft mit Frauen und wählt seit ewigen Zeiten die Sozialisten.› Ich biss mir auf die Zunge. Was hatte ich davon, dieses siebzig und noch was Jahre alte Kind zu erschrecken, das in seiner Verkalktheit überzeugt war, sich oben in der ewigen Seligkeit einen lichtdurchfluteten Platz mit idyllischem Ausblick verdient zu haben?.» Man könnte diesen Roman als Schelmenroman bezeichnen, als Satire aber auch als Gesellschaftsroman. Es gibt großartige Passagen, in denen sich der Leser an der ein oder anderen Stelle selbst wiederfindet. Mit viel Witz und feinem Humor beschreibt Fernando Aramburu hier einen Protagonisten, der sich die Seele freischreibt. Letztendlich ist er im wahren Leben ein angepasster Bürger und sein Umgang mit Frauen entspricht nicht ganz dem, was er zu Papier bringt und man vermutet, als Lehrer ist er nicht unbeliebt. Ein Wutschreiber, den man am Ende fast sympathisch wahrnimmt, denn Selbstkritik ist inbegriffen. Eine herrliche Gesellschaftssatire, ein sprachgewaltiges Epos, das sich süffig liest. Ein gelungener Roman, ein sprachliches Meisterwerk! «Ich entfremdete mich von meinen Jugendfreunden, wie sie sich untereinander entfremdeten, ohne dass es zu einem Streit gekommen wäre. Eheschließungen, Umzüge, Beruf Kinder schickten jeden auf eine andere Reise ... Waren die gemeinsamen Erinnerungen ausgetauscht, merkten wir, dass wir uns nicht mehr viel zu sagen hatten. Der einzige Freund aus alten Zeiten, mit dem ich noch Umgang habe, ist Humpel.» Fernando Aramburu wurde 1959 in San Sebastián im Baskenland geboren. Seit Mitte der achtziger Jahre lebt er in Hannover. Für seine Romane wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Premio Vargas Llosa, dem Premio Biblioteca Breve, dem Premio Euskadi und zuletzt, für «Patria», mit dem Premio Nacional de la Crítica, dem Premio Nacional de Narrativa und dem Premio Strega Europeo. «Patria» wurde als Serie für HBO verfilmt.