Profilbild von gwyn

gwyn

Posted on 12.3.2023

Der Anfang: «Es sind die großen Tage der englischen Fuchsjagd. Der Meet ist für ein Uhr angesetzt. Jetzt ist es zwölf, und die Schaulustigen strömen nur so nach Althorp, dem felsgrauen Anwesen des fünften Earl of Spencer. Das Schloss hat seine Reize. Die Fassade gehört nicht dazu. Ein eigensinniger Vorfahre der Spencers hat das einst heiter rote Tudorhaus mit grauen Ziegeln verblenden lassen und korinthische Säulenattrappen rechts und links neben den Eingang geklebt.» Karen Duve nimmt sich in ihren Romanen historische Figuren vor und schreibt biografisch über einen wichtigen Ausschnitt des Lebens dieser Frauen, der die Persönlichkeit herausstellt. Gut recherchiert ist der Roman zu Anette Droste-Hülshoff «Fräulein Nettes kurzer Sommer» eines meiner Lieblingsbücher. Dieses Mal widmet sie sich detailliert der österreichischen Kaiserin Elisabeth (1837–1898) über die Zeit von März 1876 bis Weihnachten 1877, bis zum 40. Geburtstag Elisabeths. «Elisabeth ist die einzige Unvernunft, der einzige Rausch in seinem strengen und nüchternen Leben. Selbst seine Geliebten sind zahmer und langweiliger als sein angetrautes Weib.» Zum Frühstück lediglich eine Brühe aus Rindfleisch, Huhn, Reh und Rebhuhn, danach zwei Gläser Wein. Zu anderen Mahlzeiten nicht mehr als das, was auf zwei Gabeln Platz hat. An manchen Tagen trinkt sie nur Milch. Tägliche Fitnessübungen. Diese Wespentaille, die alle bewundern, muss erhalten bleiben! Sie lässt sich eigene Fitnessgeräte entwerfen und bringt damit ihren Hofstaat an den Rand des Wahnsinns. Nach dem Kämmen werden die Haare gezählt, die in der Bürste hängen bleiben, sind es zu viel, setzt es Ohrfeigen. Die langen vollen Haare immer perfekt frisiert. Bekanntlich benötigte die Dienerschaft für das Waschen der Haare einen ganzen Tag. Elisabeth residiert nicht gern am Hof in Wien, zu viele Verpflichtungen, das spanische Hofzeremoniell, schlimmer als ein Korsett; zu viele Intrigen. «Als Kaiserin bin ich in eine Ebene aufgestiegen, wo mir das normale Menschsein nicht mehr möglich ist.» Kleider kaufen (aber sie passt sich nicht an, will keine «Anziehpuppe im Geschirr» sein), und natürlich Pferde. Reiten und jagen, auch das ist schwierig in Wien. Drum reisen, dorthin, wo man Jagden veranstalten kann! Elisabeth immer vorne weg, unter den wildesten Reitern. Die Pferde sind ihr Leben – die Pferde und Reisen bedeuten Freiheit. Kaiser Franz Joseph ist eine Nebenfigur. Er bekommt seine Frau ja kaum zu Gesicht. Aber ihre Schwester, die ehemalige Königin von Neapel begleitet sie oft. Eine exzentrische Frau diese Kaiserin. Als Sisi wurde sie durch den bekannten Kitschfilm, Ernst Marischkas Sissi-Trilogie, romantisch verklärt dargestellt. Nur ihre Geschwister nannten sie Sisi. Die Kaiserin Elisabeth war nicht unbedingt eine Frau, die man gern hatte. «Jetzt gibt es nur noch federnden Grasboden, die Pferde, den Fuchs, die kläffende Meute und die schönsten Hecken und Gräben.» Der Roman beginnt im März 1876 in England, wo Elisabeth an einer Fuchsjagd teilnimmt. Bay Middleton ist als ihr Begleiter eingeteilt, einer der besten Reiter, der so gar nicht amused ist, eine Frau in den hinteren Reihen zu begleiten. Doch es kommt anders – diese Frau kann reiten, aber wie – immer die Nase vorn in der ersten Reihe, halsbrecherisch fliegt sie über Gräben und Hecken, umkurvt Kaninchenlöcher. Auf Anweisung ihres Mannes folgt sie zähneknirschend einer Einladung Königin Victorias (die sie zu Beginn der Reise konsultieren wollte und abgewiesen wurde), reduziert den Besuch nun auf eine Tasse Tee, was zu einem diplomatischen Eklat wird. So kennt Kaiser Franz Joseph seine Frau. Und er zahlt auch immer weiter die kostspieligen Reisen, neue Pferde. Keine Rücksicht auf Politik und Diplomatie – was ihr nicht in den Kram oder in den Zeitplan passt, wird ignoriert. Gleich an Ostern, zurück in Wien, ist es ihre Pflicht als oberste Dame der Gesellschaft, zum Empfang der «Metternich-Pauline» zu erscheinen, die in Wien als erste Gesellschaftsdame fungiert, Elisabeth eine Menge Arbeit abnimmt in sozialen Bereichen. Die Kaiserin hat keine Lust auf Festivitäten. Auf der einen Seite ist Sisi froh, dass Pauline (eine schöne Frau mit wundervollen Haaren) all die gesellschaftlichen Pflichten für sie erledigt, auch als Modefigur von Österreich in Erscheinung tritt, andererseits ist genau das etwas, das die beiden konkurrieren lässt – sie hassen sich gegenseitig. «Oh, Gott, so wurde man also behandelt, wenn man nicht die Kaiserin war. Vielleicht war die Idee doch nicht so gut.» Neben Elisabeth gibt es zwei weitere Hauptcharaktere in diesem Roman: die kaiserliche Hofdame Marie Festetics und Sisis Nichte Marie Louise von Wallersee, eine exzellente Reiterin. Auf geht es nach Ischl, dann nach Feldafing am Starnberger See, wo sie ihre Nichte Marie und deren Familie trifft, die Nichte von der Kaiserin als Begleiterin aufgenommen wird. Die Tochter einer Schauspielerin als Vertraute der Kaiserin galt allerdings als «comme il faut». Weiter reist man auf das ungarische Landgut Gödöllö, wo auch Captain Middleton anreist, eingeladen zur Jagd. Waghalsig geht Sisi in Wien inkognito zur Maskenredoute, stellt hier fest, wie es ist, wenn man sich unter das Volk mischt. Auf nach Böhmen, immer wieder reiten und jagen. Reisen und reiten ... Bald wirkt die Nichte Marie anziehend auf die Jagdgellschaften, besonders auf die männlichen Adligen. Die eifersüchtige Elisabeth weiß sich zu helfen. Marie muss den schlesischen Grafen Georg Larisch heiraten – beiderseits unerwünscht. Hofdame Marie Festetics, die für Elisabeth eine gute Begleitung ist, hatte einen Heiratsantrag erhalten, eine gute Partie, es wäre eine Liebesheirat geworden. Doch die Kaiserin geht vor, Festetics kann sie nicht allein lassen. Zwei Frauen, die trotz aller Liebe zu Elisabeth sehr unter ihr zu leiden hatten. Eine verzichtete Liebesheirat, ein Gewaltmarsch in Eis und Schnee, nur um einen geheimen Brief auszuliefern, ein unwegsamer Fußmarsch bis zur Erschöpfung, weil kein Platz in der Kutsche ist (von Elisabeth keine andere Möglichkeit gesucht wurde), das Striegeln und Einreiten von Elisabeths Pferden nach der Jagd – die Kaiserin selbst darf ruhen. Die egomane Kaiserin ist oft eine Zumutung für die knicksenden Menschen um sie herum. Der Kaiser hat Liebschaften, das ist bekannt. Ob Sisi ... hier werden Seitensprünge angedeutet. Wahrscheinlich sind diese historisch nicht bewiesen, nur vermutet. «Ihre große Traurigkeit pausiert, sowie sie einen der Lipizzanerhengste reitet. Das Lebensfeuer der Tiere springt auf sie über.» Eine Frau der Extreme – hopp oder topp. Wer sich ihr widersetzt, fällt auf ewig in Ungnade. Alles dreht sich um ihre Majestät, auch sie selbst. In Freiheit aufgewachsen, leidet sie unter der spanischen höfischen Etikette. Reisen und halsbrecherisches Reiten befreien. Beim Reiten kann sie sich fühlen. Immer wieder zeigen sich depressive Züge bei der Kaiserin, «in einer Gruft der Schwere und Verzweiflung»; auch hadert sie mit dem Altern, fürchtet sich vor «Alter, Vergänglichkeit, Tod». Eine narzisstische Frau, gefangen in sich selbst, gefangen in ihrer Position. Reiten und immer wieder Reiten, um sich daraus zu befreien. Ihre Haare, ihre Taille. Körperpflege, tägliche Rituale. Ein interessantes Porträt der eigensinnigen Kaiserin Elisabeth, weit entfernt des Kitsch-Mythos Sisi. Man kommt ihr näher, fühlt an manchen Stellen Mitleid mit der herrischen Frau. Ich hätte mir weniger ausgedehnte Jagdszenen gewünscht, die die Biografie ein wenig aufblähen, ermüden lassen. Karin Duves Humor, der mir bei «Nette» so gut gefallen hat, bricht hier nur an manchen Stellen durch, z.B. wenn Elisabeth über die dicke Viktoria und ihre «Hofmumien» lästert oder über Fürstin Metternich, das «Seidenäffchen mit Spitzen und Rüschen». Herrlich auch die Szene, als sie ihren alten Leibarzt aus Possenhofen antraben lässt, der im Prater auf die Jagd geht und den bei den Wienern beliebten zahmen Praterhirsch Gustl erlegt. Fantastisch gut recherchiert – aber ein wenig viel Reiten, jagen und zu viele Haare. Karen Duve, 1961 in Hamburg geboren, lebt in der Märkischen Schweiz. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Ihre Romane Regenroman (1999), Dies ist kein Liebeslied (2002), Die entführte Prinzessin (2005) und Taxi (2008) waren Bestseller und sind in 14 Sprachen übersetzt. 2011 erschien ihr Selbstversuch Anständig essen, 2014 ihre Streitschrift Warum die Sache schiefgeht. Die Verfilmung ihres Romans Taxi kam 2015 in die Kinos. 2016 sorgte sie mit ihrem Roman Macht für Aufruhr und wurde mit dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor (2017) ausgezeichnet. Für ihren Roman Fräulein Nettes kurzer Sommer (2018) wurde Karen Duve mit dem Carl-Amery-Preis, dem Düsseldorfer Literaturpreis und dem Solothurner Literaturpreis ausgezeichnet.

zurück nach oben