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seeker7

Posted on 8.3.2023

Der stark mit den Neurowissenschaften verbandelte Philosoph METZINGER hat mit seinem „Ego-Tunnel“ (2014) ein Standardwerk zum Stand der Bewusstseins- und Kognitionswissenschaften veröffentlicht. Viele später erschienenen Publikationen sind nicht wesentlich über die Erkenntnisse und Interpretationen dieses inspirierenden Buches hinausgegangen. Entsprechend groß war die Spannung hinsichtlich seines neuen Buches, das ein bereits 2014 gesetztes Thema aufgreift und vertieft. Der gesellschaftliche Kontext, in den METZINGER seine Ausführungen zur Bewusstseinskultur stellt, ist zunächst überraschend und irritierend: Es ist die unerbittlich heranrückende Klima-Katastrophe, die seiner Analyse nach realistischer Weise nicht mehr aufzuhalten ist. Dies sei zwar möglicherweise rein physikalisch noch möglich, nicht aber bei der Berücksichtigung der psychologischen, politischen und institutionellen Trägheiten. Genau dies nimmt der Autor zum Anlass, darüber nachzudenken, wie wir als denkende und fühlende Wesen in den bevorstehenden Zeiten psychisch überleben können – und zwar auch dann, wenn demnächst klimatische und gesellschaftliche Kipppunkte (Panikpunkte) überschritten sein sollten. Da muss man erstmal schlucken. Doch es geht nicht nur um die Bewältigung des menschlichen Scheiterungs-Prozesses. Natürlich geht METZINGER davon aus, dass wir – solange es eben geht – an der Eindämmung der Klimawandel-Folgen arbeiten. Für uns reiche Länder bedeutet das: ein massives „grünes Schrumpfen“ zu bewerkstelligen und zu akzeptieren. Hier könnte dann eine gelungene Bewusstseinskultur zu eine alternativen Sinngebung beitragen, die den Verlust der gescheiterten Wachstums-Konsum-Spirale auszugleichen versucht. Was nun „Bewusstseinskultur“ genau sein könnte, stellt der Autor im Hauptteil seines Buches dar. Ganz grob gesprochen geht es einerseits darum, durch bestimmte (insbesondere meditative) Praktiken mehr Kontrolle über die eigene (gedankliche) Innenwelt zu erlangen und den Fokus auf grundlegende Erfahrungen des „Seins“ zu konzentrieren. Parallel dazu sollen hinsichtlich der rationalen Erkenntnisversuche bestimmte Maßstäbe gelten, die einen gesellschaftlichen Konsens ermöglichen: Orientierung an Fakten, Empirie, Logik und einer ethischen Grundhaltung gegenüber allen empfindungs- und leidensfähigen Geschöpfen (einschließlich der zukünftigen Generationen). Das klingt alles ehr abstrakt und es wird Zeit, etwas zum Denk-und Schreibstil von Thomas METZINGER zu sagen. Der Autor ist auf mehreren Ebenen so etwas wie ein „Grenzgänger“. Schon seit Jahrzehnten überschreitet er die Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen und hat maßgeblich dazu beigetragen, die Neurowissenschaften in die Philosophie zu holen (oder umgekehrt?). Aber METZINGER kratzt auch an anderen Tabus: Er ist nicht nur an asiatischen philosophischen bzw. spirituellen Traditionen interessiert, sondern meditiert seit langer Zeit intensiv und hat mit einer ganzen Reihe von psychedelischen (psychoaktiven) Substanzen recht nahe Bekanntschaft geschlossen. Der Hintergrund: METZINGER sucht einerseits nach wünschenswerten alternativen Bewusstseinszuständen (darin sieht er eine potentielle Bereicherung), andererseits ist er dem inneren Kern, der Grunderfahrung des „bewussten Seins“ auf der Spur. Und diese ist seiner Erfahrung nach nicht nur sprachfrei, sondern beinhaltet auch eine weitgehende Auflösung des Ich-Bewusstseins. Dies ist also der Hintergrund für die hier dargelegten Thesen und Vorschläge. Man muss also einkalkulieren, dass METZINGER die normale Alltagssprache schonmal verlässt, eigene Begriffs-Schöpfungen einbringt und insgesamt auf einem recht hohen Abstraktionsgrad argumentiert. Manches mag man sogar ein wenig schräg finden – wie seine Überlegungen zur Leidensfähigkeit von KI-Systemen (wobei die jüngsten Durchbrüche bei den ChatBots hier seine Kritiker vermutlich leiser werden lassen). Jedenfalls ist das hier kein leicht lesbares Gute-Laune-Buch. Es geht nicht um esoterische Wellness-Angebote oder um Weltausstiegs-Szenarien. Der Autor ringt um eine Möglichkeit, mithilfe von (nicht-religiösen) spirituellen Praktiken die geistige Gesundheit in chaotischen Zeiten zu erhalten. Kommen wir nochmal zu den Haltungen: METZINGER ist davon überzeugt, dass wir einen klaren Blick auf die Welt und in unseren Geist richten sollten. Wir sollten uns nichts vormachen, uns nicht ablenken oder durch irrationale Heilsversprechen trösten lassen. Für ihn führen sowohl rationales Denken als auch der Blick nach innen zu einer intellektuellen Redlichkeit. Diese mag zwar zu schmerzlichen Erkenntnissen führen, schenkt dafür aber eine weitgehend unverstellte Klarheit und geistige Reinheit. Für die meisten Leser/innen (soweit sie noch nicht mit der Gedankenwelt des Autors vertraut sind) wird es in dem Buch immer mal wieder Stellen geben, an denen sie „aussteigen“. Metzinger mutet einiges zu, eben auch befremdliche Ideen. Für Menschen, die Meditation für eine esoterische Spinnerei halten, ist z.B. der Text sicher nicht geeignet. Die Suche nach dem innersten, puren Bewusstheitskern gehört sicher für die meisten nicht zu ihren vordringlichen Zielen. Für alle, die rund um Philosophie, Spiritualität und Naturwissenschaft gerne die Erkenntnis- und Lösungsdimensionen erweitern möchten, bietet dieses Buch eine reich gefüllte Fundgrube. Allerdings darf man nicht erwarten, dass hier eine Art Fortsetzung des EGO-Tunnels geboten wird: Neurowissenschaften stehen in diesem Buch eindeutig nicht im Mittelpunkt. Es ist ein eher persönliches Buch eines klugen und tiefsinnigen Menschen, der angesichts des menschlichen Versagens um eine Minimallösung ringt – die selbst auch dann noch Sinn geben könnte, wenn das „große“ Scheitern nicht mehr aufzuhalten ist.

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