Sarah Jørgensen
Amalie Skram (1846-1905) schrieb mit dem vierteiligen Romanzyklus »Die Leute vom Hellemyr« zwischen 1887 und 1898 ein naturalistisches Hauptwerk der norwegischen Literatur, das in grandioser Neuübersetzung von Christel Hildebrandt, Gabriele Haefs und Nora Pröfrock als Gesamtwerk im Guggolz Verlag veröffentlicht wurde. Es verfolgt den Niedergang einer Familie nahe Bergen, die sich gegen ihr Unglück auflehnt, doch bis in die nachfolgenden Generationen immer wieder davon eingeholt wird. Mich fasziniert an dem Werk unter anderem die Tatsache, dass die gebürtige Norwegerin Skram, die sich selbst als dänische Autorin verstand, dieses norwegische Epos viele Jahre nach ihrer Auswanderung nach Kopenhagen verfasste und das in ihrem ganz eigenen Dänisch, für ihr dänisches Publikum, mit einem dänischen Erzähler. Die Figuren in den Romanen wiederum sprechen die jeweiligen norwegischen Dialekte, die zu ihrer geografischen Herkunft und ihrem Stand gehören. Je höher auf der sozialen Leiter eine Figur angesiedelt ist, desto dänischer wird die Sprache. Die Sprache wird nicht nur zum Ausdruck der Gesellschaftsschicht, sondern auch zum Ausgangspunkt und dem Kurs des einzelnen Menschen. In einem Brief an den norwegischen Verfasser Jonas Lie schrieb Skram im Juli 1887, dass sie ursprünglich von einem 18-jährigen Studenten erzählen wollte, seiner Kindheit und seiner Ausweglosigkeit. Doch als sie weiter in die Geschichte einstieg, wurde ihr klar, dass sie für das Gesamtbild auch die Vergangenheit der Eltern dieses jungen Mannes mit einbeziehen musste, am besten in einem unabhängigen Band. Um auch diese Geschichte besser einordnen zu können, landete sie schließlich bei den Urgroßeltern des Jungen, das sind Oline und Sjur Gabriel, mit denen die schlussendlich vierbändige Reihe beginnt, und deren unglückliche Koexistenz zum Ausgangspunkt für die Familie der Hellemyr wird. Es ist eine Familie, die viele Ähnlichkeiten mit Amalies eigener Familie hat, was mich zurück zu der Frage bringt, inwiefern dieser Romanzyklus die künstlerische Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Herkunft ist. Die Serie erstreckt sich über mehrere Generationen, und jeder Roman hat seine eigene Galerie von Charakteren und seine eigenen Themen. Doch durch alle Bände erstreckt sich das übergreifende Thema von sozialem Aufstieg und Fall, das ein Porträt einer Gesellschaft zeichnet, die sich nicht verändert und deren Gesetze so stark sind wie die Gesetze der Natur. Amalie Skram war eine Art Naturforscherin. Wie durch ein Mikroskop beobachtete sie die Menschen mit ihren Träumen und ihren Abgründen, beleuchtete ihre dunkelsten Winkel, schälte sie Schicht für Schicht, sezierte ihr Inneres und äußerte ihre Beobachtungen in realistischen Schilderungen der klassengespaltenen Gesellschaft und der Realität der Frauen des Bürgertums im gesellschaftlichen und sexuellen Zusammenleben mit den Männern. Gemeinsam ist den Figuren in jedem neuen Band, dass sie blitzartig Hoffnung wecken, dass die neue Generation mit dem gesellschaftlichen Erbe brechen kann. Doch alle Geschichten von Amalie Skram enden tragisch. Es geht jedes Mal darum, wie unmöglich es ist, sich aus den Zäunen, in die wir hineingeboren wurden, zu befreien. Die Unterschicht wird ausgebeutet und abgestumpft, die Ehen erscheinen als sexuelle Machtbeziehungen, deren Hierarchien, Strukturen und soziale Gesetze unveränderlich sind. Die Serie beginnt unter den Ärmsten und Ausgestoßenen der Gesellschaft, dem Ehepaar Hellemyr, und endet vier Generationen später mit dem jungen Severin, der erkennen muss, dass die erhoffte Zukunft nicht realisierbar ist. Amalie Skrams Romanzyklus scheint zunächst wahnsinnig ernüchternd, auch die dargestellte körperliche und psychische Gewalt ist teilweise schwer aushaltbar. Doch mich begeistert die zeitlose scharfe Kritik männlicher Dominanz, und die vermittelte Überzeugung, dass Frauen sich aus ihrer gesellschaftlichen Gefangenschaft lösen können unter der wesentlichen Voraussetzung des gemeinsamen Kampfes von Frauen für die Selbstbefähigung über das eigene Schicksal.