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Buchdoktor

Posted on 19.2.2023

Barrington J. Walker, Einwanderer aus Antigua, pensionierter Ford-Arbeiter und Vater zweier erwachsener Töchter, steht unter Druck. Sein verleugneter Gefährte Morris C. de la Roux, seit ihrer Jugend Barrys einzige Liebe, will endlich klare Verhältnisse und mit seinem Liebsten zusammenleben. Er fürchtet, wenn Barry sich gegenüber seiner Frau jetzt nicht outet, müssen sie den Traum vom späten Glück begraben. Barry hält sich mit über 70 körperlich und geistig fit, aber seine Knie machen beim Tanzen längst nicht mehr mit. Barrys Ausweichen scheint ein besonderer Fall von später Identitätskrise zu sein, in der er sich als Vater, Ehemann, Liebhaber und Großvater in Frage stellt. Die Männer hatten sich von ihrer Auswanderung nach London größere Anonymität als in ihrer karibischen Heimat versprochen. Doch die geballte Macht der Frauen aus St. John’s/Antigua in Carmels Pfingstgemeinde hat das unmöglich gemacht. Rückblenden aus der Gegenwart zeigen in 10-Jahres-Schritten, dass für Barry eine Trennung von Carmel nicht so einfach sein wird, wie Morris sie sich vorstellt. Wir erleben ihn in einer besonderen Beziehung zu seinen Töchtern, die er während Carmels postpartalen Depressionen gemeinsam mit einer Frau aus der Gemeinde aufzog, als Förderer seines Enkels Daniel, der für eine Bewerbung in Harvard paukt – und als Opfer von Spott und homophober Gewalt. Barry ist ein Mann der doppelten Verneinung: ein karibischer Mann konnte zu seiner Zeit nicht „keine Familie“ gründen und als Schwuler karibischer Herkunft kann er aus Angst vor Gewalt seiner Ansicht nicht nicht in einer heterosexuellen Ehe leben. Barry und Morris geben mit ihrem trockenen Humor und ihrem Bashing der Kolonialmacht ein grandioses Paar ab. Lästern gegen das Queen’s English ist die eine Sache; aber der Kolonialmacht die Schuld daran zuzuschieben, dass karibische Männer unzuverlässig sind, ist schon ein starkes Stück. Über die Geschichte lebenslanger Liebe zweier Männer jenseits der 70 hinaus gibt Bernardine Evaristo Einblick in Mutter-Töchter- und Vater-Töchter-Beziehungen der karibischen Community Londons, betrachtet spöttisch die zweite Generation von Feministinnen, die in der Praxis gern das Hotel- und Taxi-Unternehmen Mama ausnutzen, und zeigt mit Daniel die Enkelgeneration jener Einwanderer, die sich ein Leben lang für ihre Familie abrackerten. So nimmt Donna die Finanzierung von Daniels Schulbesuch gern an, führt jedoch beständig Guerillakrieg gegen das Patois und den karibischen Einfluss ihres Vaters … Durch die Geschichte der Familien Walker und de la Roux bin ich beim Lesen nur so hindurch geflogen. Am Rande wahrnehmen konnte ich dabei Evaristos atemlosen Stil ohne Punkt und Komma, den wir inzwischen aus "Mädchen, Frau etc." kennen. Etwas zu grotesk finde ich das Sightseeing in der Schwulenszene der Stadt unter Maxines Führung. Zwar schließt es den Kreis zu Barry und Morris, die als Einwanderer behandelt wurden, als könnten sie kaum Lesen und Schreiben – aber sollte Maxine nicht längst wissen, dass sie alte Herren besser nicht unterschätzen sollte?

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