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Mit ihrem Buch über Alexander von Humboldt ist der Kunsthistorikerin WULF 2016 ein großer und erfolgreicher Wurf gelungen. Sie ist in ihrem Nachfolge-Werk der Epoche treu geblieben und hat sich mit den Denkern und Literaten an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert beschäftigt. Wobei die Formulierung „beschäftigt“ eine geradezu groteske Untertreibung darstellt. Die Autorin hat mit dieser Publikation einen Sachbuch-Stil zur Perfektion getrieben, der sich etwas so beschreiben ließe: „Tauche in eine historische Epoche und das Denken und Handeln ihrer Protagonisten so intensiv ein, dass nicht nur zeitgeschichtliche Zusammenhänge und kulturelle Bedeutungen plastisch werden, sondern ausgefeilte Persönlichkeitsprofile und privateste Beziehungsmuster zwischen den Beteiligten nachvollziehbar werden.“ Es geht schwerpunktmäßig um eine Gruppe von deutschen Geistesgrößen, die sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der recht überschaubaren Universitätsstadt Jena gelehrt, geforscht, geschrieben, diskutiert, geliebt und gestritten haben. Um die wichtigsten Namen einmal zu nennen (sie tauchen in dem Buch unzählige Male auf): Goethe, Schiller, Fichte, August Wilhelm, Friedrich und Caroline Schlegel, Schelling, Novalis, Hegel, Alexander und Wilhelm von Humboldt. Zusammengefasst wird ihr Denken und Schreiben unter dem Begriff (frühe) Romantik, als deren Markenzeichen die Betonung des subjektiven „Ichs“ als zentrale Quelle für das Weltverständnis und die Weltbeschreibung angesehen wird. Dabei bilden die Ideen der Französischen Revolution bzw. deren politisch-militärischen Irrungen und Wirrungen die entscheidende zeit- und ideengeschichtliche Basis. Zwar kann man sich ohne großen Aufwand aus zahllosen Quellen über die beteiligten Personen und ihr Schaffen informieren – bilden sie und ihre Zeit doch den harten Kern der deutschen kulturellen Identität. Doch das von WULF gezeichnete Bild ist schärfer, facettenreicher und vor allem bunter und lebendiger als übliche Darstellungsformen. Was ihr dabei besonders in die Hände spielt, ist die – oft geradezu zwanghaft anmutende – Neigung der Protagonisten, ihre Gedanken, Sehnsüchte und Handlungen in einer wahren Flut von Tagebuchnotizen und gegenseitigen Briefen zu verschriftlichen. Das Ganze bildete ein unglaublich intensives und dichtes kommunikatives Netzwerk, das selbst in Zeiten des Social-Media-Irrsinns absolut beeindruckend erscheint: So wurden gelegentlich in Krankheitsphasen zwischen Goethe und Schiller mehrfach täglich durch Boten Briefe ausgetauscht! Überhaupt bildet die Beschreibung der Freundschaft zwischen den beiden ganz Großen einen Höhepunkt dieses Buches: Die anschauliche, alltagsnahe Schilderung ihrer Beziehungsgestaltung lässt die Menschen hinter den Kultur-Helden fassbar werden – wie es keinem Schulbuch oder Lexikon-Beitrag jemals gelingen könnte. Doch damit ist es nicht genug: Die literarischen und amourösen Beziehungsmuster zwischen den anderen Hauptdarstellern werden bis in die persönlichsten Winkel ausgeleuchtet. Da fehlt nicht mehr viel – und das Drehbuch für eine vielteilige Netflix-Drama-Serie ist steht! WULF verliert die zeitgeschichtlichen Zusammenhänge nicht aus den Augen: Wir erfahren jede Menge über die deutsche Kleinstaaterei, über die Bedeutung der jeweils zuständigen Fürsten für die Geistesfreiheit und über die Auswirkungen der Feldzüge Napoleons auf das praktische und kulturelle Leben. Es ist die perfekt gelungene Verflechtung zwischen Philosophie, Literatur, Naturerforschung, Politik, Zeitgeschichte und Privatheit, mit der dieses Buch für die interessierte Leserschaft einen fast unerschöpflichen Fundus von Erkenntnissen und Anregungen schafft. Allerdings: Ein mehr als durchschnittliches Detail-Interesse an den dargestellten Einzel-Persönlichkeiten und ihren Verquickungen sollte man als Leser/in tatsächlich mitbringen. Manchmal treibt die Autorin die Analyse auch der feinsten Ausschläge im literarischen und erotischen Miteinander doch etwas auf die Spitze: Will und muss man das alles so genau wissen? So kann man durchaus an einigen Stellen ein wenig ungeduldig werden… Insgesamt ist WULF dem selbst gesetzten Standard für besonders lebendige und detailverliebte Sachbücher zweifellos gerecht geworden. Sie hat ein fabelhaftes Buch über die „Fabelhaften Rebellen“ geschrieben. Den Lesenden kann versprochen werden, dass sie sich dieser Epoche und deren Leitfiguren noch nie so nahe gefühlt haben.