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Buchdoktor

Posted on 8.2.2023

Nienke/Skip überführt als Matrosin auf Zeit gemeinsam mit Kapitän Lood gerade eine Yacht in einen Mittelmeerhafen, als sie überraschend in Cannes die Familie Zeno sieht, bei der sie in Amsterdam eine Zeitlang gelebt hatte. Welches Verhältnis die junge Frau aus Osdorp/NL zu den Zenos hatte, entfaltet sich erst allmählich in winzigen Schritten. Als Nienkes alleinerziehende Mutter starb, nahmen die bürgerlich wohlhabenden Zenos die mittellose Sechzehnjährige bei sich auf. Zenos Sohn Juda war damals 10 Jahre alt; Nienke lebte bei ihnen als Tochterersatz und Au-Pair-Mädchen für Juda. Da der Junge schon immer in seiner eigenen Welt fiktiver Alternativgesellschaften unterwegs war, übernahm Nienke die Vermittlung zwischen zwei Generationen, zu denen sie nicht gehörte und mit denen sie sich nicht identifizieren konnte. Ein Ausgleichskind, das sich zu Dankbarkeit verpflichtet fühlte und doch keinem Familienmitglied gerecht werden konnte. Auch wenn sie in der Zeit viel gelernt hat, war es rückblickend ein sonderbares Verhältnis. In der Gegenwart hat Nienke ihren Besitz in einem Selfstorage-Abteil eingelagert und lebt von Segelunterricht, Crew-Jobs und gelegentlichen Zeitschriftenartikeln. Bei ihrer Rückkehr nach Amsterdam muss sie sich ihrem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Bemutterung stellen und sich entscheiden, ob ihr ein Leben aus dem Seesack an Bord von Booten entspricht, die ihr nie gehören werden. In Rückblicken auf alte Freundschaften wird deutlich, dass die heutige Weltreisende sich keiner Kategorie zugehörig fühlt, sie ist weder „arterhaltend“, „kulturschaffend“, noch gescheitert – höchstens immer noch suchend. Von ihrer unerfreulichen Beziehung mit dem Soziologie-Dozenten Borg erfahren Nina Polaks Lese:innen indirekt aus einer eingeschobenen Erzählung, in der Borg Nienke als (kaum verfremdete) literarische Figur ausbeutet. Die Wertung, wie nah Borgs „Cloe“ der realen Nienke kommt, bleibt uns Leser:innen überlassen; ein geschicktes Mittel um Nienkes Leben wie auf brüchigem Eis zu zeigen. Mit Nienke Nauta alias Skip hat Nina Polak eine glaubwürdige Figur geschaffen, die mich mit ihrer authentischen Sprache amüsieren konnte. Beim Thema Kinder, die als Sozialwaisen notgedrungen zu früh die Erwachsenenrolle übernehmen, musste ich meine idealistische Vorstellung vom Ausgleich sozialer Defizite aus früher Kindheit auf den Prüfstand stellen. Ein origineller, berührender Roman, dem ich alle vorstellbaren Auszeichnungen wünsche.

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