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Yvonne Franke

Posted on 6.2.2023

Zum ersten Mal fiel mir auf, dass ich mit diesem Roman etwas ganz besonderes entdeckt hatte, als, nachdem ich wohl ein paar Stunden in Chloë Ashbys "Das Leben in Nuancen" verschwunden war, meine Gedanken ihren Sprachduktus annahmen, als wäre es mein eigener. Es kommt natürlich ab und zu vor, dass man so intensiv liest, dass es sich anfühlt, wie das Laufen kurz nachdem man die Rollschuhe ausgezogen hat. Wenn einem die eigene alltägliche Fortbewegungsart für eine Weile nicht mehr gehört. Selten aber konnte ich es so deutlich daran festmachen, dass ich mich einer bestimmten Figur, ihrer Art zu denken, so verbunden gefühlt habe. Ashbys Londonerin Eve öffnet ihre Welt so unmittelbar, dass man einfach hineinfällt, bevor man die Notbremse ziehen kann. Und wenn Eve mal nicht in der Kunst verschwindet, ist das hart, denn man taucht hier in ein Leben ein, das von einem schmerzhaften Grundsummen bestimmt wird, dessen Lautstärke im Lauf der Erzählung zunimmt. Aber zunächst ist Eve seltsam genug, dass man ein schelmisches Vergnügen daran hat, an ihren wilden Assoziationen teilzuhaben, an ihren Schummeleien, ihrer merkwürdig unschuldig daherkommenden Kleptomanie, ihren regelmäßigen Gesprächen mit Suzon, der Bardame auf dem Gemälde von Édouard Manet, ihren Beobachtungen, während sie nackt Modell steht. "Verengte Augen, zusammengezogene Brauen, Zähne, die in Unterlippen fahren wie Gabeln in fettes Fleisch. Ich bin ihnen für die nächsten fünfundvierzig Minuten ausgeliefert. Sie reißen mir die Glieder aus und denken sich die Anordnung von Knochen und Muskeln neu, und ich sehe ihnen dabei zu." Doch immer häufiger triggert die Außenwelt intensive Erinnerungen an Grace, die starb als Eve und sie als beste Freundinnen in Oxford Kunstgeschichte studierten. Und Eve ist nicht ganz unschuldig daran, dass das passierte. Ashby gelingt es Eves tiefe, notdürftig verdrängte Trauer, die Schuld, die daraus resultierende Selbstzerstörung als so zwingend zu erzählen, dass jeder Schritt, jeder Entschluss nachvollziehbar wird. Man spürt deutlich: auch ich könnte Eve sein. Und das macht die Sache ganz schön persönlich.

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