R. S.
Sexualisierte Gewalt und Selbstjustiz - wichtiges Thema, aber mit Schwächen *enthält Spoiler* Die beiden Mordermittler Jagoda "Milo" Milosevic und Vincent Frey werden mit übel zugerichteten Männerleichen in Hamburg konfrontiert. Im Laufe ihrer Ermittlungen stellen sie fest, dass alle ermordeten Männer in ihrer Vergangenheit sexuelle Gewalt an Frauen ausgeübt haben. Macht hier jemand Jagd auf männliche Sexualstraftäter? "Stigma", geschrieben von den beiden Autorinnen Regina Denk und Lisa Bitzer unter dem Pseudonym Lea Adam, wartet noch vor dem ersten Kapitel gleich mit einem vollmundigen Versprechen auf, nämlich dass der Thriller "[f]ür alle, die es leid sind, immer wieder dieselbe Geschichte über ermordete Frauen zu lesen" gewidmet sei. Wird "Stigma" dem gerecht? Meiner Meinung nach nur bedingt. Ja, es wird deutlich und durchaus respektvoll aufgezeigt, was im Umgang mit sexualisierter Gewalt vor allem gegen Frauen alles falsch läuft, dass die Opfer hierbei allein gelassen werden, dass ihnen wenig bis gar kein Glauben geschenkt wird oder ihnen teils selbst die Schuld daran gegeben wird und dass auch aus strafrechtlicher Sicht nicht hart genug dagegen vorgegangen wird. Es ist unfassbar und macht wütend. Da überrascht es nicht, wenn aus Opfern Tätern werden und sich hier auch nicht Mitleid gegenüber den Toten einstellt. In Bezug auf die Taten spielt Selbstjustiz eine große Rolle und genau dieser Aspekt wurde meines Erachtens nicht differenziert genug dargestellt. Es besteht kein Zweifel, dass es einige Missstände im Umgang von Sexualstraftätern und deren Opfern gibt, doch rechtfertigt, dass keine Selbstjustiz aus einfachen Rachegründen und genau diese kritische Auseinandersetzung hat mir im ansonsten gut und fesselnd geschriebenen sowie gut durchdachten Thriller gefehlt. Von Beginn an wird Spannung aufgebaut und bis zum Ende hochgehalten, auch nachdem sich herauskristallisiert hat, was hinter den Morden steckt, schafft das Autorenduo noch zu überraschen. Überzeugen kann auch die gute Charakterzeichnung. Bedingt dass der Thriller, abgesehen von einzelnen Kapiteln, die aus Sicht von Frauen geschrieben wurden, die Opfer von sexueller Gewalt bzw. Vergewaltigungen wurden, ist die Handlung aus der Perspektive von Milo geschrieben, wodurch sie greifbarer wird. Die Einblicke in ihr privates Leben ließen sie zudem auch menschlicher erscheinen. Jedoch verliert die Handlung zum Ende hin an Glaubwürdigkeit und wirkt zu konstruiert, steht dann eigentlich nur das Rachemotiv im Vordergrund der Ermittlungen. Auch die schnell laut werdende Chefin, ein Maulwurf in den eigenen Reihen sowie eine Staatsanwaltschaft, die sich in die Ermittlungen einmischt, sind nicht neu. Fazit: Mit den Themen sexualisierte Gewalt, Täter-Opfer-Umkehr, Selbstjustiz und Mord aus Rache hatte zusammen mit einem hohen Erzähltempo und einen angenehm zu lesenden Schreibstil "Stigma" eigentlich alle Zutaten für einen spannenden Thriller, der gleichzeitig noch den Blick auf ein wichtiges Thema lenkt. Doch leider konnte das Endprodukt nicht vollständig überzeugen. Den Opfern von sexualisierter Gewalt wurde zwar eine Stimme gegeben, die jedoch leider im Rachemotiv untergangen ist.