Buchdoktor
Als Samantha Raymonds Wechseljahre nicht länger zu verdrängen sind, beschließt sie Hals über Kopf, ein renovierungsbedürftiges Haus von 1913 zu kaufen und sich von ihrem Mann Matt zu trennen. Geld scheint keine Rolle zu spielen; und dass Sam von Renovierungsarbeiten keine Ahnung hat, ignoriert sie elegant. Backstein, Eichenholz, Bleiglasfenster, Ofenkacheln, hochwertige Schreinerarbeiten – ein Träumchen von einem Architektenhaus, wenn Sam auch nur einen Funken handwerklichen Verstand einzubringen hätte. Bis Mitte 50 hatte sie ein überschaubares Leben als Mutter einer inzwischen 16-jährigen Tochter gelebt und ehrenamtlich das kleine Museum über Clara Loomis geführt, eine (fiktive) Lokalgröße, die bereits 1895 eine Broschüre zur Empfängnisverhütung verfasste und eine Portiokappe zur Verhütung entwickelte. Sam wirkte auf mich zunächst wie eine Person, die ihr Mäntelchen nach dem Wind hängt, indem sie dem Zeitgeist nicht widerspricht. Wie akribisch Sam das Loomis House als Teil der Stadt- und Frauengeschichte aufbaute, wird erst in einem späteren Kapitel klar. Im Geheimen bestand Sam stets darauf, anders zu sein als der Mainstream vorgibt, und wirkt entschlossen, das mit dem Ende ihrer fruchtbaren Jahre endlich ausleben zu können. Verborgen blieb bisher, dass sie aus übertriebener Fürsorge ihrer Tochter Ally eine penetrant kontrollierende, übergriffige Mutter war. Für Dana Spiottas Leser:innen wird früh deutlich, dass Sam daran scheitern wird, Ally vor gesellschaftlichen Normen zu schützen, die sexuelle Gewalt durch Täter-Opfer-Umkehr unter den Teppich kehren. Der Roman spielt circa 2017, kurz bevor 2018 der Fall Kavanaugh bestätigen sollte, dass wegen Vergewaltigung angeklagte Männer vor amerikanischen Gerichten gern zu „armen Jungs“ stilisiert wurden, die um ihre Karriere bangen, klagende Frauen dagegen zu leichtfertigen Geschöpfen, die zu kurze Röcke trugen und ihr Getränk nicht vehement genug gegen K.O.-Tropfen schützten. Neben ihrem Versagen gegenüber Ally muss sich Sam auch eingestehen, dass ihre eigene Mutter sie zum absehbaren nahen Lebensende nicht sehen möchte: keine Ratschläge, keine Besuche und keine selbstlos pflegende Tochter, fordert Lily. Dass sie zu ihrer Enkelin Ally jedoch eine innige Beziehung pflegt, scheint ein weiterer Punkt auf Sams Liste der Misserfolge zu werden. Vor der Hintergrundfolie von Spiottas Heimatstadt Syracuse tritt ihr Roman einer Hausfrau und Mutter in den Wechseljahren an im Wettbewerb mit einem bisher in der zeitgenössischen Literatur vorwiegend männlichen Blick à la Philip Roth auf männliche Befindlichkeiten und Hormonhaushalte. Mit Focus auf drei Frauengenerationen und eine fiktive Aktivistin für Frauenrechte und schafft die Autorin einen raffinierten Plot mit überraschenden Wendungen. Die unbedarft wirkende Sam hat mich einige Male genervt die Augen verdrehen lassen, bevor ihre Schöpferin schließlich alle Karten auf den Tisch legte.