Buchdoktor
In der unmittelbaren Zukunft nach Beginn der Corona-Pandemie und des Ukraine-Kriegs wirkt Tom Beyer ausgebrannt nach einem Jahrzehnt Einsatz für das Weltklima, zuletzt als Sprecher der Weltklima-Konferenz in New York. Sein Scheitern schreibt Tom u. a. der deutschen Regierung zu, die ihn hängen gelassen hätte. Auf den hochqualifizierten Wissenschaftler wartet in Deutschland schon eine neue Aufgabe in der Klimaforschung. Tom stammt von einem Bauernhof in Nordfriesland, den er als 17-Jähriger im Streit mit den Eltern verließ und den sein Bruder Robert übernommen hat. Anders als Tom ist Robert auf seinem zweiten Hof in Ostdeutschland direktes Opfer des Klimawandels; denn die Region mit typischem Kontinentalklima wird von einer nie dagewesenen Hitzewelle getroffen. Unbeweglich hängt ein Hochdruckgebiet über der Gegend um Fehrbellin, riesige ausgetrocknete Flächen stehen in Brand und es gab bereits zahlreiche Hitzetote. Die von Kapitel zu Kapitel steigende Tagestemperatur bildet einen beängstigenden Countdown ab: Temperaturen um die 40°C sind Standard, für die kommenden Jahre sagen Experten weitere Temperatursteigerungen voraus. Wenn er den Hof in Lentzke verkaufen will, ehe alles Futtergetreide verdorrt und sein Vieh verdurstet ist, muss Robert schnell handeln. Seiner Tochter Janne, Meteorologie-Studentin und Klimaaktivistin, hat er bisher offenbar nicht zugetraut, mit ihm Ideen für eine Landwirtschaft der Zukunft zu entwickeln. Während in New York Tom noch immer nicht mit Frau, Tochter und Geliebter über seine Zukunftspläne gesprochen hat, entfaltet Thore D. Hansen den Konflikt der Brüder Beyer, der sich nur geringfügig von Erbfolgekonflikten unterscheidet, wenn ein Nachkomme einen Hof übernimmt und die Geschwister ihn verlassen. Die Brüder eint die Sorge um ihre jeweils einzige Tochter, denen sie nicht zutrauen, der radikalen Umstellung ihrer Lebensweise gewachsen zu sein, die Tom in seinem Phönix-Programm fordert. Als in Lentzke Tom, seine Tochter Mareike, Robert, Janne und ihr Partner Tobias schließlich aufeinander treffen, sitzen sich an Roberts Küchentisch Klimaforscher, Klimaaktivisten und Klimaleugner gegenüber. Ihr Konflikt erhält besondere Brisanz, weil Robert zu ausgebrannt ist, um vernünftige Entscheidungen zu treffen und jeder erwartet, dass andere ihre Position aufgeben. Teilst du meine Einstellung nicht, bist du gegen mich. Da Robert in Brandenburg offenbar hauptsächlich Ferienhausbesitzer als Nachbarn hat und nicht gerade talentiert darin wirkt, sich ein berufliches Netzwerk zu schaffen, kann er nur scheitern. Ein Jahr später sehen sich Landwirte vor der Pleite, die in Unterkünfte für Touristen investiert haben, angesichts weiter steigender Temperaturen. Angefeuert von der Boulevardpresse, erstarrt Deutschland im Grabenkrieg radikaler Gruppierungen, gelähmt durch passive Politiker und handlungsunfähige Institutionen. Die Flucht aus dem brennenden Brandenburg wird zur Überlebensfrage: Wer der Beyers kann die Flucht an die geringfügig kühlere Nordseeküste schaffen – und wer wird auf politischer Ebene den Karren noch aus dem Dreck ziehen? Die Zuspitzung auf den Bruderkonflikt wirkt anfangs recht banal. Nüchterne Vorträge zu Klimafragen bremsen zwar die Spannung, aber wie von Dystopien gewohnt, hat mich - bei inzwischen angezeigten 50°C - das Bangen um die Figuren fesseln können. Der in der Besetzung männerlastige Klimaroman (Jannes Mutter ist bereits verstorben, weitere Frauenfiguren bleiben blass) vermittelt drängende Probleme: das weltweite Ausmaß des Klimawandels, Polarisierung der deutschen Gesellschaft quer durch die Familien, die Rolle Sozialer und anderer Medien dabei, Personalisierung von Konflikten bis zur Vernichtung von „Gegnern“, Vertrauensverlust in Wissenschaft und Wissenschaftler, bevorstehender Zusammenbruch des Staates und seiner Infrastruktur. Die Figuren des dystopischen Szenarios wirkten auf mich anfangs zwar blass, das Durchhalten, bis sie zum überraschenden Ende „auspackten“, hat sich jedoch gelohnt.