Buchdoktor
Was hat ein Mann der Gegenwart auf Suche nach seiner Identität gemeinsam mit einer isländischen Bäuerin, die in einem fernen Jahrhundert nach Bildung hungerte und damit nach der Welt außerhalb ihres abgelegenen Fjords? Auf der isländischen Halbinsel Snæfellsness findet sich in einer leeren Kirche ein namenloser Erzähler, dem offenbar die Erinnerungen verloren gegangen sind. Runá erkennt ihn und vermittelt Kontakt zu ihrer Schwester, die ein Hotel betreibt. Der Gedächtnislose mogelt sich im Gespräch zunächst an Vergessenem vorbei, steigt jedoch später als Erzähler aus seiner Geschichte heraus und lässt sich von seinen Figuren leiten. Aus Rückblicken, Briefen und Überlieferungen entsteht in Zeitsprüngen die Geschichte eines abgelegenen Fjordtals samt einer Handvoll idyllisch gelegener Bauernhöfe. Höfe, deren Namen den Fjordanliegern traditionell so geläufig waren wie die Familienstammbäume – und die ich mir beim Lesen aneignen musste, um der Erzählerstimme folgen zu können. Seine Geschichten erzählen über Frauen, die einheiraten und nie die Finger in den Schoß legen, über Männer, die sich der Pflicht zur Hofübernahme klaglos beugen und verwaiste Kinder, die als Pflegekinder ins Tal gegeben werden. Früher ernährte ein Bauernhof am Fjord rund 15 Personen, heute oft nur noch zwei. Zeitlose Bilder lässt Stefansson im Kopf seiner Leser entstehen, von körperlicher Arbeit, die die Menschen krümmt und beinahe stranguliert, vom Arbeiten von Kindesbeinen an, weil Arbeit da ist (als Bauer, Fischer, Seemann, Lehrer, Postbote) - und immer wieder von Fluchten aus dem Ethos der Pflichterfüllung. Die Bäuerin Guðriður (Frau von Gisli) hat sich sicher nicht träumen lassen, dass es kein Zurück ins Tal mehr geben würde, nachdem sie einmal Bildung gekostet hatte. Pfarrer Pátur, der ihren Hunger nach Büchern stillte und steuerte, muss sich allerdings seiner Verantwortung bewusst gewesen sein. Eirikurs Schicksal ist an das seines abwesenden Vaters Halldor gekettet und den Hof der Großeltern; beide Männer gefangen zwischen Tradition, Scham und Schwermut. Unzählige Beziehungen und schrullige Details sind aufzublättern, ehe der Bogen zwischen Gegenwart und Vergangenheit des Tals geschlagen sein wird. Johan Kálman Stefánssons üppiges Familienepos mäandert auf rund 500 Seiten durch die Epochen, zwischen Bleiben und Fortgehen, Verantwortung und persönlichen Glücksansprüchen. Große zeitlose Dramen um Lügen, Feigheit, Scham, den Tod und ungelebte Träume lässt er vor den Augen seiner Leser entstehen. Einige Male habe ich mich gefragt, ob die Geschichte mich in die Gegenwart des gerade wieder aufblühenden Tourismus in Island führt oder in die Vergangenheit, in der ganze Familien an Tuberkulose starben. Hatte ich wirklich alle Hofnamen, Personennamen und Spitznamen einander korrekt zugeordnet? In welch absurde Situationen die zahlreichen Figuren gerieten, konnten mich ebenso verblüffen wie ihr Widerstandsgeist gegenüber Traditionen, die ihre Vorfahren noch für unverrückbar gehalten hatten.