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Buchdoktor

Posted on 4.1.2023

So wie Arno Geiger vom Leben und der Demenzerkrankung seines Vaters ermächtigt wurde, „Der alte König in seinem Exil“ zu schreiben, brachte ihn sein lange gehütetes Geheimnis dazu, einen weiteren autobiografischen Text zu verfassen. Anfang der 90er lebte Geiger noch während seines Studiums in einer preiswerten Wiener Wohnung und hatte mit Mitte 20 bereits zwei Romane geschrieben. Ein Zufallsfund an einem Altpapier-Container brachte ihn dazu, die Stadt jeden Morgen einige Stunden lang mit dem Fahrrad zu durchstreifen, um zuerst Bücher vor Vernichtung und Vergessen zu retten. Das Finden und Mitnehmen gibt bloßem Papier den Wert seines Inhalts wieder zurück, entdeckte er dabei. Außer seiner Partnerin wusste niemand von dieser Tätigkeit; am frühen Morgen und in Arbeitskleidung hätte ihn vermutlich auch niemand beim Containern erkannt. Waren es anfangs Bücher, die sich in der Vor-Internet-Zeit erfolgreich auf dem Flohmarkt verkaufen ließen, grub er schon bald tief im Container verwandte ideelle Werte aus: Tagebücher, Briefe, veraltetes Geschäftsbrief-Papier, Fotos, Patientenakten und historische Postkarten. Kluge Geschäftsverbindungen sorgten dafür, dass die Dinge in fachkundige Hände gerieten, während in der winzigen Wohnung ein Regal Platz beanspruchte, das schlicht „Geschäft“ genannt wurde. Natürlich war ich ungeheuer neugierig darauf, wie sich die schwere körperliche Arbeit des Bücherrettens mit Arno Geigers Autorentätigkeit vereinbaren ließ. Lange wurde ich auf die Folter gespannt, ehe der Autor mit der Verbindung zwischen Containerfunden und seinem Schreiben herausrückte, seiner persönlichen „Räuberleiter zu Ideen“. Wer Geigers letzte Bücher kennt, wird den Zusammenhang problemlos herstellen können. „Der alte König in seinem Exil“ hat empathisch wie feinfühlig die Bedeutung des biografischen Ansatzes bei der Betreuung dementer Menschen verdeutlicht und wird deshalb vielen Leser:innen unvergesslich bleiben. Als Arno Geigers Vater an Demenz erkrankt, ist der Sohn noch keine 30 Jahre alt und kommt von nun an regelmäßig nach Wolfurt/Voralberg, um Zeit mit seinem Vater zu verbringen. „Das glückliche Geheimnis“ setzt früher ein. Es umfasst eine Zeitspanne von 30 Jahren und ordnet Geigers Romane ein in sein „Leben mit Nebenwegen und Sackgassen“. Die geheime Rettung kultureller Werte wird aus diversen Perspektiven betrachtet. Körperliche Tätigkeit außerhalb der Wohnung kann Autor:innen allein durch den Wechsel des Schauplatzes erden, im Fall von Geigers Bücherrettung verschaffte sie ihm ein paralleles Leben, das ihn einfach glücklich machte, in dem niemand Ansprüche an ihn stellte. Dass es ihm schwer fiel, von der Gewohnheit zu lassen, als er bereits erfolgreich und mehrfach preisgekrönt war, ist leicht nachvollziehbar. Was Altpapier-Container über die vergangenen 30 Jahre zu erzählen hatten, fand ich so fesselnd wie die pure Vielfalt an Dokumenten und Geschichten, die dort zu retten war. Arno Geigers autobiografisches Buch hat mich besonders im Dreieck mit „Der alte König“ und „Drachenwand“ beeindruckt. Auch wenn die beiden biografischen Texte aneinander andocken, finde ich beim Lesen diese Reihenfolge jedoch nicht zwingend.

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