Profilbild von anne_hahn

anne_hahn

Posted on 20.10.2018

„Diese Nächte waren ihr Geheimnis. Sie waren die bedeutungsvollsten Stunden des ganzen Sommers. Wenn sie im Dunkeln allein spazieren ging, war ihr, als sei sie der einzige Mensch in der Stadt (…) In den Stadtteilen, wo die Reichen wohnten, hatte jedes Haus ein Radio. Dorthin lenkte sie ihre Schritte. Alle Fenster waren geöffnet, und sie konnte die Musik deutlich hören. Mit der Zeit wußte sie, in welchen Häusern die Leute das anstellten, was sie hören wollte. Besonders in einem Haus stellten sie immer die schönen Orchesterkonzerte an. Zu diesem Haus ging sie an dem Abend und schlich sich durch den dunklen Garten, um zu lauschen.“ Carson McCullers wurde vor einhundert Jahren in Columbus, Georgia, geboren. Als ihr erster Roman veröffentlicht wurde, war sie 23 Jahre alt. Eine ihrer Protagonistinnen in „Das Herz ist ein einsamer Jäger“ ist Mick, ein hoch aufgeschossenes Mädchen, das Musik liebt und am liebsten durch die heißen Nächte ihrer Heimatstadt streunt. Ich verschlang das Buch erstmals in den neunziger Jahren, ordnete es zwischen Harper Lee und Truman Capote ins Regal und vergaß es. Seit ich meinen kleinen Buchladen betreibe, fällt mir etwa jährlich ein Exemplar in die Hände — verschiedene Ausgaben in unterschiedlichen Übersetzungen. Ich entschloss mich, die erste deutsche Ausgabe des Kantorowicz-Verlages von 1950 zu behalten, in der Übertragung von Karl Heinrich. Es ist vergilbt, der Leinenrücken fleckig wie der Pappeinband, der zentral gesetzte Titel leuchtet wie eh und je in knalligem rot. Vor einigen Wochen habe ich es wieder gelesen. Es kam mir vor, als sei es das erste Mal. Auf 349 Seiten breitet die Autorin ein Südstaaten-Szenario vor uns aus, wie es konkreter und seltsamer nicht sein könnte. Heiße Sommertage und Nächte, arme schwarze Viertel am Stadtrand, ein Rummel, eine Kneipe und ein paar Lädchen entlang der staubigen Hauptstraße bilden die Kulisse der Handlung, die sich über wenige Monate erstreckt. Eine Handvoll Figuren schart sich um den taubstummen John Singer, dessen ebenfalls taubstummer Lebensgefährte Spiros Antonapoulos gerade in eine Irrenanstalt eingeliefert wurde. John Singer zieht daraufhin in das Haus der Eltern Micks, eine Art Pension. In seinem Zimmer werden im Laufe des Romans der Wirt Biff Brannon, der Marxist Jake Blount, der schwarze Arzt Benedict Copeland sowie Mick Stunden bis Tage verbringen, Singer ihr Herz ausschütten, und vor allem: sich verstanden fühlen. Habe ich mich beim ersten Lesen noch mit Mick Kelly identifiziert, dem alter Ego Carson McCullers, fühlte ich mich bei der jüngsten Lektüre eher zur Perspektive Singers hingezogen, erlebte die Protagonisten durch seine Augen. Erst jetzt fiel mir auf, wie intensiv Singer seine Gesprächspartner gesehen haben musste, mehr als gehört, denn sie sprachen schnell, lange und ohne Gebärdensprache. Selten ist von den Zetteln die Rede, die Singer benutzt, um knappe Antworten oder Fragen zu formulieren. Der breite Erzählstrom der anderen muss regelrecht an ihm vorbei fließen. Hat sich Carson McCullers mit den Statements des schwarzen Arztes zur Rassenproblematik, des Arbeiters zum Kapitalismus, des Wirtes zur Liebe von vornherein ausschließlich an uns, die Leser, gewandt? Alle Figuren, fiel mir jetzt auf, sind komplett in ihre eigene Welt versponnen, nehmen kaum wahr, was den jeweils anderen umtreibt. Kommt es zu einer Konfrontation, einem Zwiegespräch, zum Beispiel zwischen dem ewig wütenden Gelegenheitsarbeiter Jake Blount und dem resignierten Arzt Benedict Coupeland, reden sie aneinander vorbei. Scheiden im Streit. Mick fühlt sich von dem Wirt Biff Brannon abgestoßen, der latent in sie verliebt ist. Vom Schmerz des Taubstummen, seinem Liebes- und Lebenskummer, erfährt keiner seiner Besucher – und so muss die Geschichte ein für sie überraschendes, tragisches Ende nehmen. In der Rezeption des Debüts, welches Carson McCullers 1940 schlagartig berühmt machte und wochenlang auf den Bestseller-Listen stand, wurde die Kritik am kapitalistischen Amerika und der Rassenproblematik heruntergespielt, als morbide Trauer über Tod, Vergänglichkeit und Einsamkeit schlechthin verharmlost. McCullers, die 1935 nach New York gezogen war, zwei Jahre später geheiratet und zu Schreiben begonnen hatte, konnte nach dem Erfolg ihres Erstlings davon leben. Sie trennte sich (vorübergehend) von ihrem Ehemann Reeves McCullers und zog in die Künstlerkommune February House im New Yorker Stadtteil Brooklyn Heights, in der unter anderem W. H. Auden, Christopher Isherwood, Benjamin Britten, Richard Wright, Salvador Dalí und Virgil Thomson lebten. Sich Jane und Paul Bowles, Truman Capote, Klaus und Erika Mann die Klinke in die Hand gaben. Die Nächte durch diskutierten und tranken. Eines Morgens lag ein blonder Engel auf der WG-Couch, der eine zentrale Rolle in ihrem Leben spielen sollte – Annemarie Schwarzenbach. Selbst unglücklich in Erika Mann verliebt, konnte Schwarzenbach die Schwärmerei Carson McCullers nicht erwidern, beide verband bald eine intensive Schreib- und Arbeitsfreundschaft, die bis zum frühen Tod der Schweizerin anhielt. Aus einem Brief von Annemarie Schwarzenbach an Carson McCullers, 1941 (Thysville, Belgisch-Kongo): „...ich bin so glücklich zu wissen, dass Du arbeitest, am Schreiben bist, einzig dafür lebst, ganz eingehegt in Deiner Einsamkeit — Dein Leben muss dem meinigen sehr ähnlich sein...“ Carson McCullers schrieb unablässig, redigierte sich unerbittlich und ruinierte rücksichtslos ihre Gesundheit. Sie rauchte wie ein Schlot und trank rund um die Uhr. Nach drei Schlaganfällen war sie ab ihrem 29. Lebensjahr halbseitig gelähmt, die letzten Lebensjahre verbrachte sie im Rollstuhl, eine Brust wurde amputiert. War sie als Kind musikalisch hochbegabt, darauf geht ein biografischer Roman ausführlich ein, wandte sie sich in New York ausschließlich dem Schreiben zu. Und wurde wieder als Wunderkind gehandelt, diesmal als literarisches. Sie versuchte es nochmal mit Reeves, lebte zeitweilig mit ihm in Europa, schrieb und trank exzessiv. Reeves McCullers nahm sich 1953 das Leben. Carson McCullers starb 1967 mit fünfzig Jahren, hinterließ vier Romane, etliche Theaterstücke, Novellen und Erzählungen, sowie eine posthum veröffentlichte Autobiografie. Zu meinen Lieblingswerken zählt neben dem besprochenen Debüt ihre Novelle „Die Ballade vom traurigen Café“, die ebenfalls von einer unerwiderten Liebe handelt und vielleicht von Carsons Gefühlen für Annemarie Schwarzenbach inspiriert wurde. Der oben zitierte Brief lautet im Folgenden: „In traurigen, einsamen Stunden stelle ich mir vor, wie unmittelbar, mit welch unendlicher Zärtlichkeit wir einander verstehen würden. Du bist die einzige Schriftstellerin, die gleich über die Härte unserer Aufgabe und unserer Arbeit denkt wie ich, als ob wir Brüder wären — und das sind wir.“ Nach Carson McCullers Werken sind etliche Verfilmungen, Hörbuch- und Bühnenfassungen entstanden, Suzanne Vega widmet ihr aktuell sogar ein ganzes Album. Unerfüllte Liebe, Isolation und Sprachunfähigkeit prägen McCullers Figuren. Mir erscheint ihre Gesellschafts- und Rassismuskritik hoch aktuell. Gerade durch den Fokus auf Außenseiter allgemeingültig. Ihre Sprache frisch, wie eben erfunden. Leichter Hand aufgesammelt. Eine kleine Aufgabe für Sie: Als ich meine Ausgabe von 1950 mit späteren Übersetzungen verglich, fielen mir erhebliche Differenzen auf — schauen Sie doch mal in Ihr „Das Herz ist ein einsamer Jäger“ und vergleichen Sie den ersten und den letzten Satz mit meinen: 1. In der Stadt lebten zwei Taubstumme, die waren unzertrennlich. 2. Auf dem Weg zur Tür wurden seine Schritte sicherer, und als er schließlich wieder im Lokal war, richtete er sich ernüchtert auf und sah der aufgehenden Sonne entgegen.

zurück nach oben