anne_hahn
„Anfangs fand ich ihn hübsch, obwohl er ein Normaler war. Aber es wächst einem ans Herz. Irgendwann war es gerade dieses Normale an ihm, das mich anrührte... Ich weiß nicht. Wie Farben, oder wie ein Baum im Frühling gegen diesen ganz bestimmten blauen Himmel, der einem das Herz durch die Augen zieht. Hübsche Dinge umschwärmen einen eben manchmal, als wäre das Herz ein Bienenstock voll elektrischer Bienen. So war er, der Geekjunge. Durch ihn kam mir das Normale auf einmal schön vor.“ Olympia, die bucklige Albino-Zwergin, erzählt uns von ihrer ersten Liebe - zu einem Normalen. Dieses Zitat lässt bereits ahnen, dass sich im vorliegenden Roman von Katherine Dunn alles etwas anders verhält als „normalerweise“. Denn bei den Binewskis ist derjenige am wertvollsten, der am un-normalsten ist. Arturo, der Fischjunge ist er der Star im Familienzirkus der Binewskis. Einst engagierte Vater Al die junge Lil Crystal als Geek, die lebenden Hühnern die Köpfe abbiss und ihr Blut wie Champagner schlürfte. Als der Zirkus nicht mehr lief, experimentieren sie mit Drogen, Insektiziden und radioaktiven Substanzen, um möglichst anormale Kinder zu zeugen. Einige Versuche gelingen: Arturo, genannt Arty oder Aquaboy, kommt mit Schwimmflossen anstelle von Gliedmaßen zur Welt; seine Auftritte in einem Wassertank werden zur Attraktion. Die siamesischen Zwillinge Electra und Iphigenia spielen umjubelte Klavierduette, vierhändig natürlich. Und der körperlich unauffällige Fortunato/Chick beherrscht Telekinese: Er bewegt Gegenstände nur mit der Kraft seiner Gedanken. Katherine Dunn, 1945 in Kansas City geboren, arbeitet/e als Journalistin, Radiomoderatorin, Kritikerin und ist eine der führenden Box-Reporterinnen der USA. Als Roman-Autorin hat sie einen langen Atem, allein an »Binewskis« schrieb sie siebzehn Jahre und arbeitet nunmehr seit vierundzwanzig Jahren an ihrem nächsten Roman! Was darf man über dieses fünfhundert Seiten schwere Feuerwerk der Phantasie verraten, ohne zu viel preiszugeben? Die buckelige, glatzköpfige Albino-Zwergin Olympia erzählt von etwa zehn Jahren ihrer Kindheit und Jugend. Es sind Aufstieg und Verfall einer außergewöhnlichen Familie. Sie selbst fühlt sich zeitlebens minderwertig. Zu wenig Entstelltes, Wunderbares wohnt ihr inne. "Meine Mutter und mein Vater haben mich so entworfen", sagt sie Normalen, die sie anstarren - und fügt entschuldigend hinzu: "Bei ihren anderen Projekten kam etwas Originelleres heraus". So verrichtet sie Hilfsdienste im Zirkus, als persönliche Assistentin des angebeteten Bruder Arty. der als Erstgeborener eifersüchtig auf alle Kinder reagiert, die nach ihm kommen. Arty entwickelt sich zum Manipulator, der nicht nur die gesamte Familie terrorisiert, sondern eine Sekte gründet, deren Mitglieder zu radikalen Eingriffen an ihrem Körper bereit sind – um Freaks zu werden. Arturo zu ähneln. Die zweite Ebene des Romans spielt lange nach dem Zirkus: Olympia lebt in einer namenlosen Stadt und beobachtet ihre eigene Tochter Miranda. Diese ist fast normal und ahnt nichts von ihrer Familiengeschichte. Miranda trägt lediglich ein Schwänzchen als verlängerten Steiß und finanziert sich ihr Studium mit Nacktauftritten. Eines Tages erscheint eine reiche Dame und bietet Miranda eine OP an, um sie von ihrem Schwanz zu befreien. Wird sie das Angebot annehmen? Und was sagt ihre Mutter dazu, die Albino-Zwergin Olympia? Katherine Dunns Roman ist ein Vierteljahrhundert alt und galt bisher als unübersetzbar. Monika Schmalz ist dieses Kunststück gelungen; eine Generation nach Curt Cobain und Terry Gilliam können sich die zeitlosen Fragen Dunns nunmehr im deutschsprachigen Raum entfalten und unsere Hirne entflammen. Die wunderbar farbige Sprache entwickelt einen eigenen Sog und zieht uns tief in die Geschicke einer doch so normalen Familie auf der Suche nach Glück und Gemeinschaft. Olympia nimmt etwa in der Mitte des Romans ihr Schicksal in die Hand, wartet auf die reiche Dame: „Ich stehe in der Mitte des leeren Umkleideraums, in der einen Hand einen Beutel, in der anderen ein Zahlenschloss, und starre auf mein Ebenbild in der verspiegelten Tür. Ich sehe alt aus. Ich habe schon immer alt ausgesehen. Der Buckel hat nichts Jugendliches und die Nacktheit meines Schädels, die unbehaarten Augenlider und die Wülste über meinen Augen knarzen vor Altertümlichkeit. Die Perücke habe ich schon in den Beutel gestopft, ich warte auf sie. 'Denk dran', sagte mein Vater immer, 'wie sehr du aufgrund deiner körperlichen Präsenz gegenüber den Normalen im Vorteil bist.' Eingehend betrachte ich den breiten Mund, die rosa Augen und den Schwung der Wangenknochen bis hin zu dem kleinen Abschnitt, der mir als Kiefer dient, und ich frage mich, ob all das auch diesmal, wenn ich es brauche, funktionieren wird. Schließlich ist Miss Lick eine Normale und könnte gegen die üblichen Tricks immun sein.“