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wandanoir

Posted on 31.12.2022

Kurzmeinung: Handwerklich top - thematisch nicht mein Fall. Vom Aberglauben, dem Wert der Literatur und der Suche nach Identität Zunächst findet man sich im französischen Literaturbetrieb wider. In Paris diskutieren und schreiben gleich zwei Autoren aus dem Senegal. Sie sind nach Frankreich gekommen, um zu studieren und zu schreiben und, wenn möglich, berühmt zu werden. Jedoch befinden sie sich auf verschiedenen Zeitebenen in Paris, der eine um 1938, der andere in den 1980igern. Der eine, Diégane Latyr Faye, folgt den Spuren des früheren, einem Kerl namens T.C. Elimane. Für Elimane habe ich mich den ganzen Roman über keine Sekunde lang erwärmen können. Anders geht es Diégane! Elimane hat in den Augen Diégane Latyr Fayes nämlich den einen, ja DEN bedeutendsten Roman aller Zeiten geschrieben „Das Labyrinth des Unmenschlichen“. Das war, wie gesagt, 1938. Weil Elimane aber alsbald des Plagiats beschuldigt wurde, verschwand er spurlos. Niemals nahm er Stellung zu den Vorwürfen. Sondern, er war beleidigt und in seiner Ehre gekränkt. Keiner Diskussion zugänglich. Typisch afrikanisch?  Diégane, in der Jetztzeit, hat das schon vergriffene Buch aufgetrieben, beziehungsweise, es ist ihm zugelaufen – das ist in einem Roman ja ohne Weiteres möglich, und nun ist er dabei, unter allerhand Irrungen und Wirrungen Elimane selbst aufzustöbern. Frankreich, Niederlande, Argentinien, Kongo, Senegal. Von den diversen Schauplätzen bekommt man nicht viel mit, im Senegal, werden Proteste gegen die Regierung geschildert, im Kongo erlebt man einen Ausschnitt des Bürgerkriegs.  Die Gralsuche Thema des Buchs ist in erster Linie die Suche nach dem heiligen literarischen Gral, das heißt, DEM Buch schlechthin -und dessen Autor. Dem Buch, das alles überstrahlt. Das genial ist. Fast heilig. Gralsuche per se muss man mögen. Ich habe sie leider immer schon für überaus albern gehalten; aus dem einfachen Grund, weil die Beschreibungen der Beschaffenheit eines Grals immer vage ausfallen müssen. Weil es ihn halt nicht gibt. Insofern ist die Suche nach einem wie immer gearteten Heiligen Gral sowohl in der Literatur wie auch im Film immer eine Schimäre! Kaum taucht irgendwo ein heiliger Gral auf, weiß man, man soll als Leser oder Zuschauer mit einem Ring an der Nase durch die Manege geschleift werden! Das heisst, hier, im vorliegenden Roman, wird man durch ein Labyrinth an Textfragmenten geführt. Natürlich wird der Heilige Gral in der „geheimsten Erinnerung der Menschen“ gar nicht Heiliger Gral genannt, aber seine Beschreibung, das Buch aller Bücher, das alle anderen aussticht, entarnt ihn sofort: ein heiliger Gral.  Elimane selbst wird buchlang ein von Sarr gewollt Geheimnisvoller bleiben, der in Gesprächen mit anderen Protagonisten jede klarstellende Antwort verweigert, natürlich, sonst wäre er ja nicht mehr geheimnisvoll. Warum bist du verschwunden, Elimane, wen suchst du, wer bist du? Schweigen. Das finde ich ermüdend und langweilig. Die Literaturszene und Kritik am Kolonialismus Die Kritik Sarrs am Kolonialismus und seinen Spätfolgen entzündet sich in der Anspielung auf den real existenten Fall des malischen Autors Yambo Ouologuem, der 1968 den renommierten französischen Literaturpreis „Prix Renaudot“ erhalten hatte, aber später beschuldigt wurde, er hätte ungekennzeichnete Anleihen bei dem Schriftsteller Grahame Greene gemacht. Analog dazu versetzt Sarr seinen senegalesischen Autor T.C. Elimane in dieselbe Lage und denselben Vorwürfen aus; er setzt den Zeitpunkt dieses Geschehens früher an, mitten in die Zeit des Nationalsozialismus, damit er Rassismus und Kolonialismus und Antisemitismus in seinem Roman unterbringen kann. Denn ein guter Roman, heißt es sinngemaß irgendwo in Sarrs Text, handele immer von allem.  Mohamed Mbougar Sarr stellt den Skandal, den das Plagieren fremder Texte in den 1960ern durch Yambo Ouologuem hervorrief, gleich doppelt nach, einmal, in dem er seine Romanfigur Elimane ebenfalls Plagiatsvorwürfen aussetzt und zweitens, indem Sarr dasselbe tut. Sein Verlag enthüllt im Anhang, von welchen Autoren Sarr selbst Textpassagen ohne Kennzeichnung verarbeitet hat, Roberto Bolaño, Aimé Césaire, Frantz Fanon, Victor Hugo, Milan Kundera, Stepane Mallarmé, Thomas Sankara. Da ich kein einziges der genannten Werke kenne, ging diese „Entleihe“ an mir spurlos vorüber. Sarr will damit die einstigen Plagiatsvorwürfe gegen Yambo Ouologuem ad absurdum führen. Tatsächlich, ist das sehr gekonnt gemacht! Der Roman ist übrigens auch Yambo Ouologuem gewidmet. Humor und Selbstironie In Sarrs Roman werden viele Romane erwähnt, angerissen, verhandelt. Die meisten davon sind fiktiv. Quasi jeder, der etwas zu melden hat in Sarrs Roman, schreibt an einem solchen: T.C. Elimanes Cousine schreibt die „Elegie an die finstere Nacht“, der Titel von Diéganes erstem Roman lautet „Die Anatomie der Leere“; „Der barbarische Badam“, „Ebenholzschwarz“, „Die Melancholie des Sands“, „Die Liebe ist eine Kakaobohne“ stammt aus der Feder von Freunden. Man schmeißt sich weg bei diesen Titeln. Die Szene wird auf die Schippe genommen. Besonders „Die Liebe ist eine Kakaobohne“ hat es mir angetan. Ich finde es immer gut, wenn man über sich selber oder über sein eigenes Métier lachen kann.  Verschachtelung Der Leser bekommt es auf mehreren Zeitebenen mit mehreren Icherzählern zu tun. Der vielfache Wechsel erzählender Stimmen kann verwirrend sein, mit Konzentration kriegt man es aber auf die Kette, sie auseinanderzuklamüsern. Die wechselnden Ebenen, Schauplätze und Icherzäher führen einen in ein kunstvolles Labyrinth, in ein unmenschliches Labyrinth? Es ist ein bisschen viel auf einmal, zuviele Themen, zuviele Protagonisten, zuviel Philosophie, sofern man das Gesagte als Philosophie gelten lässt. Dem Roman fehlt etwas Großes, eine starke rote Linie, eine rote Linie stark wie eine Liane, eine Aussage wie ein Ausrufungszeichen! Der ganz große Wurf ist es deshalb nicht. "Die geheimste Erinnerung des Menschen" verliert sich in raffinierten Verästelungen. Lobend erwähnen muss man, dass kein einziges Fädchen lose in der Luft hängen bleibt. Der Spagat zwischen dem alten und dem neuen Afrika In der Familiengeschichte Elimanes stößt das alte und das neue Afrika aufeinander und verschmilzt in der Figur des Elimane. Er ist sowohl der moderne junge Afrikaner , der im Ausland studiert und ein genialer Schriftsteller, gleichzeitig aber im Aberglauben verhafet und in schwarzer Magie bewandert. Eine Kunst, die er gegen seine Kritiker einsetzt, was angedeutet, aber nicht bewiesen wird. Die Geistwesen Afrikas trollen sich munter in Sarrs Roman herum. „Genug Afrika?“ hört man den Autor spötteln, der sich darüber mokiert, dass europäische Leser von einem afrikanischen Autor Exotik erwarten.  Erotik Frauen dürfen Philosophie studieren, aber letztlich sind sie trotzdem nur erotisches Beiwerk und tabledancen und/oder prostituieren sich, was das Zeug hält. Keine Frau, die Diégane und seine Kumpels in ihrer Hauptbeschäftigung des Abhängens treffen, wird nicht beschlafen. Sex ist wie Essen. Liebe ist nur ein Wort. Vor allem unsere Icherzähler Diégane trifft keine Frau ohne nach kurzer Zeit mit ihr im Bett zu landen.  Lebensfrage und Sinnsuche In dem Roman „Die geheimste Erinnerung der Menschen“ steckt eine Menge Brisanz, Problematik und Satire, Phantasie und Kunst. Oder raffiniertes Handwerk. Aber Handwerk ist nicht alles. Diverse Versatzstücke wie Interviews, Kurzlebensläufe, etc, etc, dienen als literarische Stilmittel und werden durch besinnliche Ausführungen, die als Überleitungen dienen, eingerahmt. Diese langatmigen Ausführungen sind schwach auf der Brust. Geschwafel und Geschwätz ruinieren jeden Roman. Einmal wird lang und breit darüber philosophiert, dass jeder Mensch eine Lebensfrage hätte. Aber die Lebensfrage, die dann ans Licht kommt, lautet schlicht und einfach „Warum er“? und es geht lediglich um eine Frau, die den einen wählte und nicht den anderen. Das ist Satire, ja. Oder lächerlich. Aber letztendlich geht es bei der Sinnsuche und Sinnfrage des Romans um die afrikanische Identität. Kehrt man der Heimat den Rücken und kehrt nie wieder, kehrt man nach jahrelanger Abwesenheit zurück und findet inneren Frieden oder verlässt man weder Heimat noch Dorf jemals? Alle drei Gruppierungen finden ihren Platz in Sarrs Roman. Die Icherzähler Mehrere Icherzähler stellen ihre Sicht der Dinge in den Raum. Kann man ihnen trauen? Alles ist nur Hörensagen. Vielleicht gibt es ja doch eine ganz normale Erklärung für alles und die schwarze Magie ist nur Einbildung. Die Protagonisten kiffen und sind selten nüchtern. Ist eine geschilderte außerkörperliche Geistwanderung wirklich passiert oder ist diese Erzählung der Drogenerfahrung geschuldet?  Prämiert mit dem Prix Goncourt 2021 Die geheimste Erinnerung der Menschen wurde mit dem Prix Goncourt prämiert. Der Preis ist aufgrund der Verschachtelungen, der Verflechtungen und der Kunstfertigkeit, womit diese ins Werk gesetzt wurden, durchaus verdient, dennoch trifft die Lektüre nicht meinen Geschmack. Zu viel von allem.   Fazit:. Was haben wir insgesamt?  Ein Sammelsurium: eine komplizierte Matroschkageschichte mit viel Gespenstern, Magie und Flussgott. Afrika pur mit Augenzwinkern. Aber auch Brisanz, Satire, ein bisserl Politik, einen Hauch Bürgerkrieg, hässlich gewiss, aber viel zu plakativ und effekthaschend, eine Art Liebesgeschichte, eine Portion Rassismusvorwürfe, ein Haufen Personal, Läuterung und Nachhausefinden - und seitenlange pathetische Sätze. Gegen Ende lässt Sarr eine seiner Figuren sagen: „Möglicherweise ist in der Literatur gar nichts zu finden“. Nun denn, dieses Nichts ist mir drei runde satte Sterne wert. Kategorie: Anspruchsvoller Roman Verlag: Hanser, 2022 Sieger des Prix Goncourt 2021

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