Bris Buchstoff
Von Größe und Güte und einer großartigen Myterikerin Von Marie de France ist, wie von vielen Frauen, die in den vergangenen Jahrhunderten durchaus Außergewöhnliches geleistet haben, kaum etwas überliefert. Wären sie Männer gewesen, so wäre das wohl anders. Ihren Namen und das Land aus dem sie stammte kennen wir, weil sie 12 Versnovellen geschrieben hat, die sie als erste französische Autorin, also erste schreibende Frau, deren Texte aus ihrer eigenen Kreativität entstanden, auszeichnen. Die Lais, so der Titel der Versnovellen, verarbeiten Märchen- und Sagenstoffe aus dem keltischen Britannien, wurden in anglonormannischer Sprache verfasst und entstanden um 1170. Aus der Wahl der Stoffe in Verbindung mit der Tatsache, dass diese in anglonormannischer Sprache und in kurzen Gedichten ausgearbeitet wurden, lässt sich dennoch etwas über die Person Marie de France und ihr Zielpublikum, den englischen Hof, ablesen. Offensichtlich war sie sehr gebildet und stammte aus höchsten Kreisen. Vielleicht ist sie sogar mit der unehelichen Halbschwester Heinrich II identisch, die als Äbtissin von Shaftesbury bezeugt ist. Dass so wenig über ihr Leben verbürgt ist, ist zwar einerseits bedauerlich, andererseits aber liefert genau das genug Spielraum für einen großartigen feministischen, historischen Roman. Und genau das hat Lauren Groff sich für ihren Roman matrix zunutze gemacht und mir damit ein Jahreshighlight beschert. Das Genre Historischer Roman ist seit Jahren nicht mehr so recht auf meiner Leseliste gelandet, obwohl es eine Zeit gab, da ich Bücher, die in Zeiten des Mittelalters oder der Renaissance oder ähnlichem angesiedelt waren, gerne las. Irgendwann jedoch hatte ich das Gefühl, dass diese Art Roman mir zu schablonenhaft wurde. Natürlich könnte man nun jeglichen Roman, der in der Vergangenheit spielt hier subsumieren - ich aber meine explizit die Stapelware, die in vielen Buchhandlungen zu finden ist. Als ich dann diese begeisterte Besprechung las, war ich schon fast überzeugt - den letzten Schubs jedoch gab mir die wunderbare Alexandra Zumoberhaus, ihres Zeichens Buchhändlerin aus Wien, der zu folgen sich auf jeden Fall lohnt. Und was sie mir sagte war sinngemäß: "Lies es unbedingt, es ist kein normaler historischer Roman, wenn Du verstehst, was ich meine". Und wie ich verstand - Danke dafür, denn matrix ist wirklich so außerhalb meines Beuteschemas, dass ich ohne den Schubs ein großartiges Leseerlebnis verpasst hätte. Doch nun endlich zum Roman selbst. "Sie kommt allein aus dem Wald geritten. Siebzehn Jahre alt, im kalten, feinen Märzregen, Marie aus Frankreich. Es ist 1158, und die Welt geht erschöpft dem Ende der Fastenzeit entgegen. Bald ist Ostern, früh in diesem Jahr. Die Saat auf den Feldern streckt im dunklen, kühlen Boden die ersten Keimblätter aus, bereit für den Aufbruch ins Freie. Zum ersten Mal sieht Marie das Kloster, bleich und unnahbar auf einer Anhöhe in diesem klammen Tal, in dem sich die vom Meer aufziehenden Wolken beständig an den Bergen abregnen." Marie kommt nicht freiwillig, sie wurde ins Kloster geschickt, weil ihr Auftreten und Aussehen nicht so recht an den feingeistigen königlichen Hof Englands passt, obwohl sie sich dort recht wohlgefühlt hatte. Lange währte die Zeit am Hofe Heinrich II. und seiner Frau Eleonore von Aquitannien nicht. Da Marie nach dem Tod ihrer Mutter zwei Jahre lang Haus und Hof verwaltet hatte - um ihren Vater ranken sich Gerüchte, er soll ihre Mutter bei der Feldarbeit erspät und vergewaltigt haben - sie schreiben, lesen und rechnen kann, ist ihr zuzutrauen, dass sie die ihr zugedachte Rolle der Priorin eines königlichen Klosters ausfüllen würde. Allerdings ist das Kloster bettelarm und die Nonnen dort sterben wie die Fliegen. Ein Nein aufgrund fehlender Gläubigkeit wird nicht akzeptiert. Maries Schicksal war besiegelt, sie fügte sich und kam also im Kloster an. Dort war die Lage mehr als schlecht. Es war kalt und zugig, die Nonnen hatten nicht genug zu essen, aber viel Arbeit, eine richtige Krankenstation gab es nicht. Aber Marie entstammte einem starken Frauengeschlecht und so hoffte sie auf die Zukunft. Darauf, dass Eleonora, die sie insgeheim verehrte, ihren Fehler einsehen und sie wieder an Hof zurückholen würde, spätestens nachdem sie ihr die 12 Las geschickt hatte, die sie für die Königin von England verfasste hatte ... Während der anfänglichen Lektüre der Geschichte, hatte ich immer wieder das Gefühl, einen dieser berühmten und bekannten Wandteppiche der Zeit zu betrachten. Die beschriebene Atmosphäre übertrug sich leicht und direkt und machte die Geschehnisse sehr nahbar. Maries Wesen zeigte sich immer mehr in ihrem Tun, ihr anfänglich nicht vorhandener Glaube verändert sich in Liebe zu den Ländereien des Klosters, zu ihren Mitschwestern und ihre Verehrung für Eleonore macht zeitweise einem Hass ihr gegenüber Platz, der durchaus nachvollziehbar ist. Wurde Marie doch einfach abgeschoben. Was Groff für das Kloster entwirft ist eine wunderbare Gemeinschaft, für mich keine Utopie, wie in anderen Besprechungen zu lesen ist, sondern eine tatsächlich mögliche Entwicklung eines armen zu einem prosperierenden Kloster. Und das liegt vor allem daran, weil Marie nicht glaubt, dass wenn es einen Gott gibt er/sie die Menschen leidend sehen will. Tatsächlich hat sie auch Visionen, die ihr allerdings von der Jungfrau Maria eingegeben werden. Marie verbessert dadurch nicht nur das Leben ihrer Mitschwestern, sondern auch das der Menschen der Stadt. Hier hat jede*r einen Platz, das ist wahrhafte Nächstenliebe. Dabei zeigt sie eine Frau, die die Stärken der anderen erkennt, ihnen entsprechend Freiheiten gibt und dennoch die gewohnte und nötige Strenge eines Klosters bewahrt. Sie öffnet das Kloster für Novizinnen, die bisher nicht aufgenommen wurden und schenkt somit Mädchen und Frauen eine Zukunft, die kaum eine gehabt hätten. Alles in allem hält sie sich nicht allzu streng an gewisse Regularien und mit der Zeit entsteht dem Kloster gegenüber natürlich auch so etwas wie Neid. Während andere historische Romane Spannung erzeugen, indem sie Dialog-fokussiert verfasst erden, gelingt es Groff, völlig ohne Dialoge auszukommen. Die Sicht von außen, quasi von einer höheren Stelle, bietet gleichzeitig eine distanzierte, wie auch eine zeitlose Sicht auf die Ereignisse. Wenn Marie ihre Visionen aufschreibt, so lässt Groff uns noch dichter an sie heran, indem sie die Visionen in der Ich-Form wiedergibt. Dieser Kunstgriff ist notwendig, so zeigt es das Ende, aber das zu erklären, wäre zu viel verraten. Ich liebe Romane, die mit guten Dialogen glänzen, aber was Groff hier geschaffen hat, ist einzigartig wohltuend. Sie hat mich tief eintauchen lassen in die Welt der Frauen - nicht nur der Nonnen - des 12. Jahrhunderts, deren Kämpfe sich erschreckenderweise weniger von den unsrigen heute unterscheiden, als man denken mag. Große Leseempfehlung für einen außergewöhnlichen, umwerfend guten, hellsichtigen, empathischen und feministischen historischen Roman, fernab jeglicher Schablonen. Der Roman ist weit mehr als ein Klosterroman, wie es ab und an in Besprechungen suggeriert wird.