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gwyn

Posted on 3.12.2022

«Über die Sedimentablagerungen auf dem Meeresboden verbindet sich die Insel Maians, bis dato ein Eiland, vor der Mole, mit dem Festland zu einer riesigen Sandfläche außerhalb der Mauern der Stadt, die jetzt um 1600, nicht mehr Barcino heißt, sondern Barcelona. Auf diesem Boden, der einst den Venus- und Herzmuscheln gehörte, erheben sich nun in wildem Durcheinander Fischerhütten, Werkstätten bescheidener Handwerker und Lagerschuppen für den Tand aus allerlei Geschäften.» (Antonio Iturbe, 1610) Katalanische und spanische Autoren, Kurzgeschichten zur Metropole: Barcelona. Ein Reiseführer zeigt uns die Sehenswürdigkeiten, Museen, gute Restaurants usw. Wer aber einen Eindruck in die Seele der Stadt sucht, in die Seele der Menschen, ist mit Literatur besser bedient. Kurzgeschichten als literarische Einladung für Barcelona, bzw. eine prima Reiselektüre. Die Hauptstadt am Meer, interessant in ihrer Geschichte, Weltstadt, politisch umkämpft, von Touristen zu Tode geliebt: Autor:innen laden ein, Barcelona zu entdecken. «‹Barcelona, posa’t guapa›, Barcelona mach dich hübsch war mehr als ein Slogan. Es war der Appell an ein Selbstwertgefühl, das verborgen geblieben war, so wie man lange Zeit das Meer verborgen gehalten hatte, dem die Stadt den Rücken zukehrte. Im Jahr 1992 begann Barcelona, sich herauszuputzen und teuer zu kleiden. Und führte damit alle hinters Licht. ... Mit anderen Worten: Barcelona wurde eingebildet. Und nichts wirkt so anziehend wie ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein.» (Llucia Ramis) Barcelona, posa’t guapa, forderte das Stadtmarketing vor den Olympischen Spielen 1992. Aber bereits unter Franco hatte die Stadt eine große industrielle Neugestaltung erlebt. Im Eiltempo wurden Trabantenstädte in der Vorstadt errichtet, Elendsviertel, die für die Arbeiter vom Land, die in den Fabriken schufteten. Die große Umgestaltung der katalanischen Metropole in den 90-ern sollte die Stadt «hübsch» machen, attraktiv für Besucher. Das sorgte für Aufbruchsstimmung – und machte sie zur Favoritin von Architekten und Immobilienmaklern. Ein verheißungsvolles Barcelona entstand, und Gaudí-Liebhaber, Wochenendtouristen, Erasmus-Studierende, Kreuzschifftouristen fluteten die Stadt. Doch wie sehen Autor:innen die grundlegende Veränderung Barcelonas? Mit Texten von Maria Barbal, Javier Cercas, Najat El Hachmi, Najat El Hachmi, Marina Garcés, Antonio Iturbe, Enrique Lynch, Juan Marsé, Cristina Morales, Enrique Murillo, Miqui Ortero, Sergi Pàmies, Javier Pérez Andùjar, Jordi Puntí, Llucia Ramis, Tina Vallès, Juan Pablo Villalobos, Carlos Ruiz Zafón, Carlos Zanón und Pedro Zarraluki treten wir in die Seele von Barcelona ein. «Tourismus war eigentlich schon immer eine Form der Kolonialisierung. Das zeigt sich an der Art, wie die Gebiete, in denen er sich ausbreitet, von ihm beherrscht und in seinem Namen ausgebeutet werden.» (Marina Garcés) Wie lebt es sich in dieser Stadt? Sehr witzig ist die Geschichte «Kafka in Barcelona» – zahle lieber die Strafen ... Sie haben ja Recht, sie sind ungerecht und vor Gericht werden Sie gewinnen. Doch «das Problem ist, dass das Einreichen der Klage Sie mehr kosten wird, als wenn sie brav die ... Peseten zahlen.» Von einem, der von einem Fettnäpfchen ins nächste tritt. Und noch einer von dieser Sorte ist der «Enthusiast», der in seiner Stadt «die übelsten Schikanen ertragen musste». Der arme Kerl, man nimmt ihn einfach nicht wahr, ehrt ihn nicht ... – Und wie lebt es sich nach Beendigung der Diktatur? Kann man dem Nachbarn in der post-franquistischen Gesellschaft noch in die Augen schauen? Bereits Klaus Mann bemerkte «Barcelona steigt zu Kopf wie Sekt und sollte daher nur in mäßigen Mengen genossen werden». Touristen fluten die Stadt, Airbnb lockt zu kaufen und zu vermieten, die Preise für Immobilien steigen ins Unermessliche und Einheimische können sich die Mieten, noch den Kauf einer Wohnung leisten. Barcelona, das Drehkreuz des internationalen Drogenhandels. Sprachpolitik und Katalonismus. Wer kennt nicht die Basílica i Temple Expiatori de la Sagrada Família? Manch einer war von Anbeginn gegen diesen «scheußlichen» Bau. Und Gaudí, wer ist das schon? Heiteres, Besinnliches, Nachdenkliches, Information, moderne Literatur, Historisches – die Stadt der Literatur befindet sich im Wandel, sie ist ein Fluch und ein Segen. Wer Barcelona mit ein wenig Tiefblick betrachten möchte, nicht mit den oberflächlichen Augen eines Wochenendtouristen, dem empfehle ich diesen feinen Band mit Kurzgeschichten. «Die Attraktivität der Mittelmeermetropole bleibt also ungebrochen, und ebenso die Gewissheit, dass die Stadt sich immer wieder neu erfindet. Das hat ihre abwechslungsreiche Geschichte eindrucksvoll bewiesen, wie in alten und neuen Werken nachzulesen ist.» (Michi Strausfeld)

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