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Buchdoktor

Posted on 20.11.2022

Frans de Waal hat mit der Erforschung der Gruppenprozesse in Primatengruppen sein Lebensthema gefunden. Er forschte in Burgers Zoo/Niederlande, im San Diego Zoo, im Kongo, Tansania, Uganda und er ist weltweit mit Primatenforschern vernetzt. Seine Forschung befasst sich mit dem Zusammenleben von Primaten als Schwestern- und Bruderschaften, insbesondere mit Konkurrenz, Hierarchie, Gerechtigkeit, Führungsstärke, Empathie und Lernen durch Nachahmen. Geschärft wird de Waals Gegenüberstellung Mensch/Primaten in diesem Buch durch die Wahl zweier gegensätzlicher Populationen, (kämpferischen) Schimpansen und (sanfteren) Bonobos. Frans de Waal betont, dass er als Verhaltensbiologe nicht wertet, sondern beobachtet und dokumentiert. „Der Unterschied“ stellt menschliches Verhalten dem von Primaten gegenüber und arbeitet heraus, wie Natur und Kultur Verhalten prägen. Seine Erkenntnis, dass Kinder und junge Primaten nicht als „unbeschriebene Blätter“ zur Welt kommen, kann erheblich zur Entschärfung der Genderdebatte beitragen. Liebenswürdig und respektvoll im Ton, merkt man dem Autor seine Hingabe an die Primatenforschung an. Er kritisiert allerdings schnörkellos, dass die Genderdebatte Offensichtliches wertet oder bestreitet, was ihm als Verhaltensforscher fremd ist. Ebenso deutlich listet de Waal Irrwege seiner Profession auf, das Experiment Bruce/Brenda (einen Jungen ohne Penis gegen seinen Willen als Mädchen aufzuziehen) und den langjährigen Gender Bias in der Verhaltensbiologie. Die Verzerrung von Beobachtungen durch persönliche Rollenzuschreibungen männlicher Primaten-Forscher wurde nach de Waals Ansicht zu lange geduldet. Wohl nicht zufällig stammten abweichende Beobachtungen und Interpretationen von Frauen (z. B. Jane Goodell) und japanischen Forschern (= kleineren und weniger dominanten Kolleg*innen) und wurden auf Fachkongressen zu lange ignoriert. Dass der Autor sich seiner Sozialisierung in einer Gruppe von 6 Brüdern nur zu bewusst ist, hat sicher zu seinem Interesse an Gruppenprozessen bei Primaten beigetragen. De Waal selbst ist das lebende Beispiel seiner Forschungsergebnisse zu Natur contra Kultur in der Entwicklung von Menschen- und Primatenkindern. Dass er sich schon immer für Tierverhalten interessierte, ist seine Natur, in Gruppen eine ausgleichende, de-eskalierende Rolle zu spielen, hat er in der Geschwisterreihe erlernt. De Waal erzählt anschaulich, dass junge Affen sich Vorbilder vom gleichen Geschlecht suchen, die sie nachahmen - weil es ihre Natur ist. Diese Wahl ist angeboren, sie wird von Belohnungssystem des Gehirns gesteuert, der Nachwuchs sozialisiere sich damit selbst, so de Waal. Affenmädels interessieren sich für Babys und Affenjungen für Toben und spielerische Rangkämpfe. Primaten unterscheiden sich allerdings deutlich vom Menschen durch ihre Toleranz gegenüber homosexuellen Handlungen und gegenüber nicht genderkonformem Verhalten. Sehr berührend fand ich de Waals Beschreibung der jungen Donna, die einen kräftigen Körperbau hatte, sich mehr für Raufen als für Babys interessierte und niemals schwanger war. Donnas Lebenslauf bestätigt, dass es bei Primaten weibliches, männliches und überlappendes Verhalten gibt, das von der Norm der Peer-Group abweicht. Dass Primaten-Weibchen angesehene Anführerinnen sein können und Männchen bei Bedarf verwaiste Jungtiere adoptieren, gehört zum toleranten Primaten-Kosmos selbstverständlich dazu. De Waal zeigt mit der Gegenüberstellung zweier Primatenarten (Schimpansen und Bonobos) und uns Menschen, dass Denken und Fühlen nicht nur unsere freie Entscheidung und dass die Vorstellung von Kindern und Primatennachwuchs als „unbeschriebenes Blatt“ nicht mehr haltbar ist, wenn wir uns mit Primatenforschung befassen. Unser Augenmerk sollte vielmehr darauf liegen, welche Vorteile das Gruppenleben von Primaten ihnen zum Überleben ihrer Art verschaffen kann. Durch die Form der anteilnehmenden Beobachtung lässt sich „Der Unterschied“ auch von Laien problemlos weglesen. Ein berührendes, tolles Buch!

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