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letterrausch

Posted on 12.11.2022

Sechzehn Jahre musste die Welt auf einen neuen Roman von Cormac McCarthy warten, sechzehn Jahre lang gab es immer wieder Anspielungen und Teaser und jetzt ist er da: „Der Passagier“ - ein Roman, der vorgibt, ein Thriller zu sein; ein kafkaesk-literarischer Alptraum für den McCarthy keinen Fahrplan, keine Bedienungsanleitung mitliefert und in dem man sich selbst zurechtfinden muss, sonst wird man vom endlosen Strom der Dialoge und philosophischen-wissenschaftlichen Betrachtungen mitgerissen und unter Wasser gezogen. Immer wieder in diesem sechzehnstündigem Hörbuch wirft McCarthy dem Leser einen Brotkrumen in Form eines rudimentären Plots hin. Unser Protagonist ist Bobby Western. Mal ist er ein Bergungstaucher, der zu einem abgestürzen Flugzeug hinabtaucht. Dann wieder gräbt er im Keller seiner verstorbenen Großmutter nach Gold. Er fährt Stockcar-Rennen und verbringt einen Winter abseits der Zivilisation in einer leerstehenden Hütte. Doch schon hier fängt das Problem an: Die Handlungselemente fließen ineinander, unverhofft findet man sich an einem ganz anderen Ort wieder und fragt sich, wie man dorthin gelangt ist. Das verstärkt das Gefühl beim Lesen, dass man sich in einem Alptraum befindet, in einer Realität, die eben irgendwie verschoben und letztlich künstlich ist. Läuft diese Handlung chronologisch ab? Werden uns hier einzelne Elemente aus Bobbys Leben vorgesetzt, die einen Rahmen bilden sollen? Ja schon, es gibt insofern eine Entwicklung im Roman, als Bobby von einem Mann mit einem Job immer mehr zu einem Einsiedler gerät. Der Radius, auch der innere, wird immer kleiner. Diese Entwicklung wird zwar von außen angestoßen, aber Bobby tut auch wenig, um sich dagegen zu wehren oder sich sein Leben und seine Existenz zurückzuerobern. Praktisch ohne Gegenwehr und ohne sonderliche Erschütterung akzeptiert er, dass sein Konto gepfändet und sein Pass eingezogen wurde. Er ist ein Spielball größerer Mächte (Nur welcher? Der Regierung? Des Lebens an sich?) und ergibt sich in die Rolle, die für ihn vorbestimmt ist. Ist das eine Allegorie auf das Leben? Dass man zunächst mit großen Plänen hinaus in die Welt geht, um dann mit zunehmenden Alter immer kleiner zu werden, auf sich selbst zurückzufallen, an der Welt auch immer weniger Anteil zu nehmen? Könnte sein. Die Handlung ist allerdings der kleinste Teil dieses Romans. Zwischen den Handlungselementen gibt es immer wieder Gespräche: Dialoge mit Personen über alles – wirklich alles. Oft geht es um Physik (Bobbys Vater hat an der Atombombe mitgebaut). Man folgt aber auch einem ausführlichen Gespräch darüber, wie man am besten unter Wasser schweißt. Es gibt einen großen Monolog über die Ermordung Kennedys (diese Leserin fühlte sich zwangsläufig an Kevin Costner und seine „Wunderkugel“ erinnert). Generationen von Lesern und Anglistikstudenten werden sich an diesen Szenen abarbeiten können. Vieles wirkt schlicht zufällig, anderes schlägt beim Lesen ein wie eine – Verzeihung – Bombe. Sicherlich sind diese fragmentierten Dialoge und Monologe ein unerschöpflicher Fundus, eine Möglichkeit für McCarthy, jedem Leser ein Angebot zu machen. Dieses Buch wird für jeden andere Stellen zum intellektuellen und emotionalen Andocken bereithalten. Genau wie in verschiedenen Lebensphasen andere Teile dieses Kaleidoskops etwas anderes zum Schwingen bringen werden. „Der Passagier“ ist ein Gesamtkunstwerk, das als Ganzes, aber auch in seinen Einzelteilen konsumiert werden darf. Noch gar nicht erwähnt wurde bisher Bobbys Schwester Alice (oder Alicia). Alice war – sie hat Selbstmord begangen – ein mathematisches Genie. Allerdings war sie auch psychisch krank. Sobald sie ihre Medikamente heruntersetzt, wird sie von einer ganzen Menagerie abgehalfterter Zirkusfreaks besucht, die scheinbar da sind, um ihre Moral hochzuhalten, sie zu unterhalten, sie bei Laune zu halten. Meistens nerven sie allerdings nur … Ihr Anführer ist ein Zwerg mit Flossen, der Fragen immer mit Nonsens beantwortet, aus dem keine gerade Antwort herauszubekommen ist. Alles in allem sind diese Szenen anstrengend und zersetzend. Man versteht, warum Alice dem Ganzen ein Ende gesetzt hat. Doch wenn diese Freaks nur in ihrem Kopf existieren, warum wird dann später auch Bobby vom Zwerg heimgesucht und führt mit ihm Gespräche über Alice? Kann man Einbildungen teilen? Sind sie dann noch Einbildungen? Man mache sich nichts vor: „Der Passagier“ ist ein sperriges Buch, oftmals ist es schwierig, überhaupt festzustellen, worum es gerade geht. Die (alp)traumhafte Atmosphäre bleibt immer erhalten, regelmäßig fühlt man sich als Leser, als würde man mit vor sich ausgestreckten Händen durch den Nebel tappen. Oft genug hat man keine Ahnung, was vor sich geht und was McCarthy sagen will. Und doch entwickelt der Roman einen Sog. Die karge Sprache, die Universalität dessen, was McCarthy abhandelt, die immer wieder in den Raum geworfenen „Denkangebote“ - wenn man sich darauf einlassen mag, dann hat man es hier mit einem Lebensbuch zu tun, das man immer wieder aufschlagen kann. Der literarische Zwilling zum „Passagier“ ist „Stella Maris“, das im November erscheint und Alices Geschichte erzählt (so heißt es). Ob dieser Roman einen Schlüssel zu „Der Passagier“ beinhaltet, mit dem man dessen Erzählberg abschließend knacken kann, bleibt zu bezweifeln. Ich erwarte eher eine andere Richtung, in die dieses Erzählrätsel weiterverzweigen wird. Das Hörbuch wird von keinem Geringeren als dem großartigen Christian Brückner eingelesen. Der Text ist kein leichter, auch formal nicht. Viel wird in Dialogen abgehandelt, oft gehen Sätze hin und her, bei denen man den Überblick verliert, wer nun spricht. Das ist gewollt. McCarthys Stil war schon immer reduziert aufs Wesentliche und aus diesem Eindampfen aufs Grundsätzliche heraus erblühen dann oft die wunderbarsten Sätze. Trotzdem wird der Text durchs Hören sicherlich nicht einfacher – und er ist eh schon kompliziert. „Der Passagier“ ist etwas für Fans von McCarthy, die Sitzfleisch mitbringen und die bereit sind, sich durchzubeißen. Geradlinig ist hier nichts. Möglich ist alles.

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