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letterrausch

Posted on 6.11.2022

Ich gebe es zu: „The Atlas Six“ von Olivie Blake war für mich eine Art Selbsttest. Ich wollte herausfinden, wie mein momentanes Verhältnis zu a) Selfpublishing und b) Hypes ist. Mit beidem habe ich nämlich in der Vergangenheit eher durchwachsene Erfahrungen gemacht und mich infolge dessen eher von Titeln ferngehalten, die entweder der einen oder der anderen Gattung zuzuordnen waren. Doch von Zeit zu Zeit macht es Sinn, die eigenen Maßstäbe zu überprüfen. Und dazu eignet sich ein Buch wie „The Atlas Six“, das eine interessante Publikationsgeschichte hinter sich hat, sicherlich besonders gut. Die erste Fassung dieses Romans erschien nämlich im Eigenverlag. Wie das aber manchmal so ist, entwickelte das Buch recht bald ein Eigenleben. Das Stichwort heißt hier „BookTok“. Dort fanden sich sofort begeisterte Leserstimmen, der Roman wurde rauf- und runterbesprochen (bzw. in die Kamera gehalten) und es entwickelte sich ein derartiger Hype, das ein renommierter amerikanischer Verlag für SciFi und Fantasy (nämlich TOR) aufmerksam wurde. Der Roman kam dort unter, wurde überarbeitet und neu herausgebracht. Welch eine Erfolgsgeschichte! Die deutsche, nun erschienene Fassung, ist natürlich die bearbeitete, geglättete – ein Auftakt zu einer Fantasyreihe um Magie und die Bibliothek von Alexandria. Denn wie wir gleich am Anfang erfahren, ist die Bibliothek nicht tatsächlich niedergebrannt. Sie existiert noch, magisch versteckt, und um sie herum gruppiert sich eine Geheimgesellschaft (nämlich die Alexandriner), die die Bibliothek und ihr Wissen schützt. Alle zehn Jahre werden sechs der fähigsten jungen Magier (in diesem Universum aus irgendeinem Grund „Medäer“ genannt) ausgewählt, um in die Geheimgesellschaft aufgenommen zu werden. Doch nicht alle sechs werden es schaffen, denn wie heißt es schon im Untertitel: „Wissen ist tödlich.“ Dieser Roman ist … interessant. Er unterteilt sich in drei Teile bezwiehungsweise klar voneinander abgegrenzte „Akte“. Los geht es mit der Vorstellung der sechs jungen Medäer und wie sie sozusagen angeworben werden. Im eher zähen Mittelteil befinden wir uns dann in einem englischen Herrenhaus nahe London, wo die sechs internatsmäßig zusammenleben und -studieren. Und im letzten Abschnitt erfahren wir dann, was eigentlich der Hintergrund, der große Masterplan ist. Olivie Blake schreibt zwar schön, aber nicht unbedingt gut. Auf den reichlich 400 Seiten dieses Romans passiert eigentlich nichts, sondern alles wird erzählt. Sie erzählt dem Leser den Charakter jeder einzelnen Figur. Sie erzählt dem Leser, wie diese Charaktere miteinander interagieren, sie kaut jeden Gedanken vor, alles ist plakativ schon da, nichts darf man sich selbst denken oder erschließen. Besonders augenfällig wird diese Schwäche der Autorin im letzten Teil, in dem sie groß angelegt erklärt, was eigentlich vor sich geht – offenbar ist ihr keine elegantere Lösung eingefallen, ihren zentralen Konflikt einzuführen. Das ist literarisch schlicht schwach. Im übrigen passiert eben auch nicht viel. Die sechs Figuren sitzen in diesem Herrenhaus und als Leser hat man den Eindruck, einer Art magischem „Big Brother“ oder „The Bachelor“ beizuwohnen. Keiner der Charaktere ist irgendwie sympathisch oder gar liebenswert. Jeder findet die anderen doof, ist nur auf den eigenen Vorteil aus, will Allianzen schmieden oder sich taktisch in irgendeine Position bringen. So ein Schulhofverhalten ist vielleicht durchaus lebensecht, aber trotzdem keine angenehme Lektüre. Da in diesem Herrenhaus eben auch nichts passiert, außer dass die Figuren sich gegenseitig nicht leiden können beziehungsweise magisch-philophische Nonsensgespräche führen, ist dieser Teil schlicht zu lang und ertraglos. Was sind also – zusammengefasst – meine Beschwerdepunkte: Der Roman hat Längen. Der Roman erzählt mir Dinge, statt sie mir zu zeigen. Der Roman ist bevölkert von anstrengend neurotischen Figuren, die mir alle egal waren. Und außerdem: Der Roman befindet sich in einer Art luftleerem Raum, da die fantastische Welt, in der er spielt, so überhaupt nicht ausgekleidet ist. Ist Magie hier allen bekannt? Kann hier jeder potenziell magisch sein? Warum sollte irgendjemand an einem Wissensschatz wie der Bibliothek von Alexandria interessiert sein, wenn es in dieser Welt ständig nur um Konzerne, kapitalistische Machenschaften und schlicht Geld geht? Und doch, aus irgendeinem Grund ist „The Atlas Six“ mehr als die Summe seiner Teile. Abgesehen von der Tatsache, dass er wirklich kürzer hätte sein können, habe ich mich bei der Lektüre nicht gelangweilt. Ich habe dieses Buch tatsächlich gern gelesen, und das, obwohl ich so viel daran fragwürdig und teilweise unterkomplex umgesetzt fand. Woran liegt das? Ich kann es wirklich nicht sagen. Vielleicht hat mich der Roman zur richtigen Zeit in der richtigen Stimmung erwischt? Vielleicht ist der Ton der Erzählung, trotz der literarischen Schwäche, einfach so gefällig, dass ich gern bei der Stange geblieben bin? Vielleicht ist es auch einfach eine gute Idee, dass man von Zeit zu Zeit einen Roman liest, der keinerlei Denkleistung verlangt, sondern der einfach nur ein paar Stunden simple Unterhaltung bieten will. Brain Candy at its best. Was es nun tatsächlich war, lässt sich schwer sagen. Aber Fakt ist: Ich habe den Roman gern gelesen und bin gar nicht abgeneigt, auch bei den Folgebänden dabei zu sein.

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