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anni_anushka

Posted on 6.11.2022

Beeindruckend authentisch Leo und Simon hatten beide keine leichte Kindheit. Sie haben kaum Familie, eigentlich nur sich, aber das hat die letztens 10 Jahre gut funktioniert. Leo sucht noch nach Inspiration als Schrifstellerin. Währenddessen arbeitet sie als Verkäuferin in einem Schwangerschaftsmodengeschäft. Simon ist bereits erfolgreich als Graphikdesigner. Nach einer Nacht mit neuen Freunden ist Simon wie ausgewechselt: euphorisch, aufgedreht, mit neuem Tattoo. Er kündigt seinen Job, erstellt eine eigene Webseite und kündigt Großes an. Zunehmend glaubt er, von seinem Freund und ehemaligen Kollegen ausspioniert und sabotiert zu werden. Leo wird in diese immer enger und beklemmender werdende Welt hineingezogen, weiß jedoch nicht, wie sie Simon da heraus bekommen soll. Die Situation spitzt sich zu und Leo muss erkennen, dass Simon zu allem fähig sein könnte. Dieser zweite Roman der belgischen Erfolgsautorin Lize Spit ist haptisch ein ziemlicher Brocken mit seinen fast 600 Seiten. Die Gestaltung ist insgesamt schlicht gehalten, aber sehr passend zum Buch, diese sukzessive Auflösung der abgebildeten männlichen Figur. Aber auch thematisch ist das Buch keine leichte Kost. Sehr beeindruckend und gleichzeitig überaus beklemmend beschreibt die Geschichte die Veränderungen und das Abgleiten von Simon. Lange wird keine Diagnose genannt, auch wenn sie im Klappentext und verschiedenen Besprechungen gespoilert wird. So begleitet man Leo, die sich zunächst wundert über die Veränderungen und dann zunehmend besorgt ist. Sie versucht, Simon in seinen Besonderheiten entgegenzukommen, seine paranoiden Überzeugungen zu widerlegen und die Probleme anderen gegenüber herunterzuspielen. Hautnah spürt man beim Lesen Leos wachsende Verzweiflung, weil sie mit Logik nicht weiterkommt oder diese immer weiter verdreht wird. Man fürchtet um sie, ob sie sich von Simon manipulieren lässt und seiner Logik erliegt. Es wird greifbar, wie schwer es für Angehörige sein muss, mit psychischen Erkrankungen wie Simons umzugehen. Das ist der Autorin unglaublich gut gelungen. Die Grenzen zwischen Geschichte und lesender Person werden durchlässig und man ist sehr nah dran. An einigen Stellen für meinen Geschmack sogar zu nah, gar nicht so sehr bei den Manifestationen von Simons Problemen, sondern schon vorher. Intime Details der Beziehung werden thematisiert, die ich wirklich nicht wissen wollte (bspw. wie die beiden sich gegenseitig die Fussel aus dem Bauchnabel pulen, wer seine Popel wohin schmiert, etc.). Hier hatte ich das unangenehme Gefühl, zu sehr mit in die Beziehung genommen zu werden, so nah wollte ich gar nicht dran sein. Abgesehen von einigen Längen im Rückblick auf Simons Entwicklung hat mich auch der Perspektivenwechsel zwischen zwei Handlungssträngen gestört. Ich hatte hier das Gefühl, dass künstlich eine Spannung aufgebaut werden sollte. In der Gegenwart hat Leo 11 Minuten Zeit, eine mögliche Katastrophe zu verhindern. Worum es genau geht, bleibt allerdings lange sehr vage, erst spät nähern sich die Handlungsstränge an. Dafür wirken diese Gegenwartseinschübe wie Lückenfüller. Auf vier Seiten werden da 30 Sekunden Handlung dargestellt, unter anderem lange Gedankengänge mit Kindheitserinnerungen verknüpft, die meines Eindrucks nach deutlich mehr Zeit als 30 Sekunden in Anspruch nehmen. Dieser Handlungsstrang hat mich immer wieder aus der Geschichte gerissen. Ansonsten fand ich die Geschichte jedoch überwiegend interessant und berührend und ich konnte mit Leo sehr gut mitfühlen. Insgesamt ist das Buch sehr eindrucksvoll und auch sehr wichtig, weil es psychische Störungen und vor allem deren Auswirkungen auf das nahe Umfeld thematisiert. Lize Spit kann eindeutig sehr gut schreiben, auch wenn mich einige stilistische Kniffe in diesem Buch gestört haben und ich teilweise doch etwas mehr Abstand zu den Figuren bevorzugt hätte. Dennoch ist das Buch auf jeden Fall empfehlenswert.

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