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dorli

Posted on 5.11.2022

Anja Marschall wartet auch im 5. Fall für Kommissar Hauke Sötje mit einer großen Portion Zeit- und Lokalkolorit auf - den Leser erwartet eine fesselnde Zeitreise ins Hamburg 1899. Ein Abend in der Oper steht an und Hauke Sötje ist wenig begeistert. Doch seine Frau Sophie ist unerbittlich - als Leiter eines Kommissariats hat er gesellschaftliche Verpflichtungen und dazu gehören eben auch kulturelle Veranstaltungen. Kurz vor Beginn der Aufführung dann die Erlösung: Kriminalassistent Schröder meldet einen Leichenfund in der Kirche St. Gertruden. Haukes Anwesenheit am Tatort ist dringend erforderlich. Sophie beschließt, „Tristan und Isolde“ auch ohne Begleitung zu genießen. Im Verlauf des Abends lernt sie die talentierte Sopranistin Carlotta Francini kennen und findet in der jungen Frau eine Freundin, die mit ihrer Unternehmungslust Sophies mittlerweile recht eintönigen Alltag ein wenig aufpeppt. Der Mord an dem Pastor der St. Gertruden-Gemeinde entpuppt sich schnell als Beginn einer Serie - ein mörderischer Rachefeldzug, der Hauke und seinen Kollegen einige Rätsel aufgibt. Dass jedes der Opfer eine prägende Rolle in der Vergangenheit von Carlotta Francini gespielt hat, finden Hauke und Sophie erst nach und nach heraus… Besonders begeistert hat mich das stimmige historische Bild, das Anja Marschall auch in diesem 5. Band der Reihe wieder zeichnet. Es ist ihr ganz wunderbar gelungen, den Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts einzufangen und den Alltag ihrer Figuren authentisch darzustellen. Die Eigenarten und Denkweise der Menschen um 1900 fließen genauso wie die Gepflogenheiten, Mode und Sprache in die Handlung ein. Auch wenn der ereignisreiche Kriminalfall - in dem man manches erahnen kann und vieles dann doch ganz anders kommt, als man denkt - mit den spannenden Ermittlungen in Hamburgs Straßen im Mittelpunkt des Krimis steht, beleuchtet Anja Marschall noch ein weiteres großes Thema: die Situation und Rolle der Frau in der damaligen Gesellschaft. Als Ehefrau eines höherrangigen Beamten und Mutter einer kleinen Tochter wird von Sophie erwartet, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse zugunsten der Familie zurückstellt. Das ist Sophie bewusst, dennoch wächst ihre Unzufriedenheit. Sie sehnt sich nach früheren Freiheiten, die Hauke ihr allerdings nur widerstrebend gewährt. Irgendwann muss dann aber auch er einsehen, dass die Ermittlungen ohne Sophie einfach nicht voranzubringen sind. Neben den fiktiven Figuren bevölkern auch einige historische Persönlichkeiten diesen Krimi. So hat Polizeirat Gustav Roscher, der sich seinerzeit dafür eingesetzt hat, dass die Hamburger Kriminalpolizei mit den modernsten Methoden zur Verbrechensbekämpfung ausgestattet wird, als Haukes Vorgesetzter mehrere Auftritte. Außerdem begegnet man dem preußischen Scharfrichter Friedrich Reindel und seinem Sohn Wilhelm, die Einblicke in die Arbeit eines Henkers gewähren. Die jedem Kapitel vorangestellten Originalauszüge aus unterschiedlichen Hamburger Zeitungen des Jahres 1899 sowie einige plattdeutsche Einschübe in den Dialogen runden diesen historischen Krimi perfekt ab. „Der Henker von Hamburg“ hat mir sehr gut gefallen - ein historischer Kriminalroman, der mit interessanten Charakteren, stimmigem Zeitkolorit und einer fesselnden Handlung zu überzeugen weiß.

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