Buchdoktor
Julia und Chris unterziehen sich gerade einer belastenden, kostspieligen Kinderwunsch-Behandlung. Mit dem Umzug in eine norddeutsche Kleinstadt mit Blick auf den Kanal sollen sich all ihre Träume verwirklichen. Für Chris als Biologen gehört dazu ein ökologisch bewusster Lebensstil ohne PKW. Das Paar will „einen Lebensradius, der so wenig Schaden wie möglich“ anrichtet. Julia betreibt in einem leer stehenden Geschäftshaus einen Keramikladen, der mit dem Verkauf selbst hergestellter Steinbausätze überraschend erfolgreich ist. Ihr neuer Wohnort zeigt sich als typische abgehängte Kleinstadt zwischen Abwanderung und Strukturkrise. Wenn Häuser leer stehen, reicht der Umsatz der Läden nicht zum Überleben. Wer hier aufgibt oder wegzieht, zieht andere mit in den wirtschaftlichen Abstieg. Ein Neubauviertel allein wird Alt und Neu nicht mehr zusammenwachsen lassen. Die Ärztin Astrid will aus Altersgründen ihre Praxis verkaufen und muss damit rechnen, dass sie - wie andere Kollegen - keinen Käufer finden wird. Astrids Tante Elsa, bei der sie aufgewachsen ist, bereitet ihr zunehmend Sorgen. Elsa empfindet die Befragung nach möglichen Alterserkrankungen als Einmischung; denn sie kennt aus ihrer Tätigkeit als Krankenschwester Fragen wie Symptome nur zu gut. Eine Jugendwohngemeinschaft wird in ihrer Existenz bedroht, als es Konflikte mit den Alteingesessenen gibt. Als Julia sich um die Bewohner des Nachbarhauses zu sorgen beginnt, die sie seit Wochen nicht mehr gesehen hat, scheinen sich Traum, Realität und unbewusste Ängste zu überlagern. Kann die alleinerziehende Nachbarin mit drei Kindern untergetaucht sein? Obwohl die Konflikte - mit Focus auf die beteiligten Frauen - alltäglich wirken, konnte ich mich mit den Beteiligten identifizieren. Berufstätigkeit in der Nach-Brexit-Epoche, unerfüllter Kinderwunsch, Bruch mit einer engen Freundin, Hadern mit der Herkunftsfamilie, Renteneintritt, Pflegebedürftigkeit setzt Bilkau in ihrem Provinzroman feinfühlig in Szene. Wie im Mikadospiel werden Stäbe fallen, sowie auch nur einer von ihnen bewegt wird. Was wird passieren, falls es keinen Arzt mehr im Ort gibt, falls Elsa nicht mehr allein leben kann oder falls sich Julias und Chris Träume zerschlagen? Die Fragen bleiben weitgehend unbeantwortet, so dass mich die Glücksuche der Figuren nach dem Zuklappen des Buches weiter beschäftigt hat. …