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Palaisfluxx

Posted on 1.11.2022

Worum geht es? In Form einer Graphic Novel erzählt Bianca Schaalburg, wie sie versucht, Klarheit über das Leben ihrer Familie während der Nazi-Zeit und über deren Mitschuld und Verantwortung zu bekommen. Sie leuchtet dabei unterschiedliche Jahre in ihrer Familiengeschichte aus und versucht das Geschehen, aber auch die Umstände zu rekapitulieren, wie etwa verschiedene Möbelstücke in den Besitz ihrer Familie kamen oder was es mit dem Haus auf sich hat, in dem ihre Familie in Berlin lebte. Wir sind dabei, wenn die Autorin das Puzzle ihrer Familiengeschichte zusammensetzt, wenn sie auf Spurensuche ist, wenn sie an ihrem Vorhaben zu zweifeln beginnt und zu verdauen versucht, was sie erfährt. Was kann es? „Der Duft der Kiefern“ kann fesseln. Macht neugierig. Nimmt einen mit. Hilft, einzutauchen in die Welt unserer Großeltern, aber auch in die eigenartige Zeit unserer Kindheit in den 60er- und 70er-Jahren, wenn immer so etwas Unausgesprochenes in der Luft lag. Eine Zeit, in der wir gespürt haben, dass unsere Eltern und Großeltern ein Wissen verbindet, nach dem wir Kinder nicht fragen durften, und taten wir es doch, allenfalls eine Antwort wie „Das hat mit dem Krieg zu tun“ bekamen, womit wir alleine gelassen wurden. So kann das Buch vor allem auch ein großes „Ja, stimmt, so war das!“ hervorrufen, wenn Schaalburg passgenau benennt, was die Kindheit und das Erleben in der Kindheit in der BRD in Bezug auf Familiengeschichte und den Umgang mit ihr ausgemacht hat. Was hat das mit mir zu tun? Mit mir hat es sehr viel zu tun, denn das kindliche Erleben von Bianca Schaalburg ähnelt meinem immens. Auch ich habe meine Großeltern ähnlich erlebt. Und auch meine Eltern mit der Mahnung, nicht zu fragen, nicht zu viel wissen zu wollen. Es ist die Atmosphäre, in der wir Kinder immer wieder Sätze gehört haben, wie „Sei froh, dass Du keinen Krieg erlebst“, in der es die Großeltern nicht aushielten, wenn man nicht aufessen wollte und der Opa einem als Special Treat ein dickes Stück Käse, fett mit Butter bestrichen, gab. In der jeder Bindfaden aufgehoben wurde und der Keller voll mit Eingekochtem stand. Eine Atmosphäre, die davon geprägt war, dass zwischen den eigenen Eltern und den Großeltern eine Verabredung zum Schweigen stand, die auch an uns Kinder weitergegeben wurde. Und auch mich treibt seit vielen Jahren die Frage um, was da war während der Nazi-Zeit. Wie schuldig die Großeltern sich womöglich gemacht hatten, und die Ahnung, dass die bis dahin so beruhigende Einordnung, der Opa sei Sanitäter gewesen, vielleicht doch keine Entlastung sein könnte – schließlich gab es Sanitäter auch in den KZs. Eigenartig ist auch festzustellen, wie ähnlich die Geschichten und das Erleben der Deutschen in und nach dem Krieg waren. Dass das, was ich innerhalb meines Familienverbundes erlebt habe, kein individuelles Erleben war, sondern ein wohl igtausendfaches (das hatte ich zunächst falsch korrigiert, klein ist es richtig, ich habs jetzt nur nicht mehr wegbekommen). Auch das macht das Buch deutlich. Warum sollte mich das interessieren? Weil wir uns als Deutsche wohl nur dann wirklich selbst verstehen, wenn wir wissen, was in unseren Familien los war und welche Last, welche Traumata womöglich auf unseren Schultern lasten. Und als Frau mit Migrationshinter- oder vordergrund hilft es mir, die Menschen besser zu verstehen, deren deutsche, nicht jüdische Familien zur Hitler-Zeit in diesem Land gelebt haben. Wie ist es geschrieben? Als Graphic Novel kommt der Zeichnung mehr Bedeutung zu als der Sprache. Schaalburg erzählt aus unterschiedlichen Jahren und es ist hilfreich, dass sie den Erzählungen aus den 30er-Jahren, der Nazi-Zeit, der Nachkriegszeit, ihrer Kindheit in den 70ern und der Gegenwart unterschiedliche Färbungen verpasst hat. Ab und zu montiert sie Fotografien ein, die dem Buch einen dokumentarischen Charakter verleihen, was die Relevanz und die Wirkung unterstützt. Ein Geschenk für alle, die wir in ähnlichen Familiensituationen aufgewachsen sind. Und für unseren Nachwuchs, dem wir das Erleben unserer Kindheit näherbringen wollen. Außerdem für Jugendliche und Jungerwachsene jeglicher Couleur. Eine Rezension von Silke Burmester

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