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kingofmusic

Posted on 26.10.2022

Unbekanntes Terrain „Das ist der Unterschied zwischen Regierungen und Menschen. Regierungen kümmern sich nicht, Menschen schon.“ (Mark Twain) Haiti, der mir bisher (literarisch) unbekannte Inselstaat in der Karibik, ist nicht unbedingt ein Urlaubsziel für mich – zu warm *g*. Wie gut, dass man die Hitze dort beim Lesen von Romanen nicht spürt. Dank des Manesse-Verlags war ich jetzt aber wenigstens lesend dort. Im Rahmen seiner „Mehr Klassikerinnen“-Reihe wurde jetzt „Töchter Haitis“ von Marie Vieux-Chauvet in der Übersetzung von Nathalie Lemmens veröffentlicht. Dabei handelt es sich um den Debüt-Roman (Erstveröffentlichung: 1954) der Autorin. Sie beschreibt darin die persönliche Entwicklung ihrer Protagonistin Lotus, einer zwischen der Oberschicht und dem einfachen Volk stehenden Tochter einer Prostituierten. Lotus hat von ihrer Mutter ein Haus geerbt, in dem sie zusammen mit zwei Bediensteten lebt und eins, dass sie vermietet hat. Entsprechend ihrer „Privilegien“ gegenüber dem einfachen Volk lebt sie ihr Leben zwischen flüchtigen Männerbekanntschaften und ihrer Freundschaft mit dem alten Charles, der ihr aus der Bibel zitiert. Als sie den Revoluzzer Georges Caprou trifft, ändert sich Lotus´ Leben von Grund auf… Marie Vieux-Chauvet hat Lotus nicht von vornherein als Sympathiecharakter angelegt – im Gegenteil: ihre teils naive Art und Weise nerven den Leser, die Augen geben einen rotierenden Rotor ab *Übertreibmodus aus*. Und doch packt die Geschichte die geneigte Leserschaft bei den Haaren, zieht sie durch Hoch und Tiefs in der Beziehung Lotus/Georges – und lässt sie zum Schluss mit einem Paukenschlag fallen. Doch das ist nur die eine Seite des Romans. Die andere befasst sich mit den politischen (Macht-)Strukturen Haitis, den Aufständen gegenüber dem korrupten Regime, dem sich ein tödlicher Disput zwischen Mulatten und Schwarzen anschließt. Dem eigentlichen Roman schließen sich ein umfangreicher Anmerkungsteil, ein Glossar und ein ausführliches Nachwort von Kaiama L. Glover an. Die Anmerkungen und das Nachwort zeichnen die historische Einordnung des Romans nach und geben einen Überblick über religiöse, kulturelle und örtliche Belange und Gegebenheiten. Die Leserinnen und Leser erhalten so also mehr als einen Roman für das (gut) investierte Geld, zumal die Aufmachung des ganzen Buches äußerst edel und geschmackvoll ist. Zu meinen nach der Lektüre spontan gezückten 4* Sternen muss ich jetzt doch noch den fünften zücken, da mich das Buch und die Geschichte auch nach ein paar Tagen nicht loslässt. Ich lege diesen Roman somit allen ans Herz, die Einblick in die haitianische Kultur, Geschichte und Literatur bekommen wollen. Somit 5* und eine absolute Leseempfehlung. „Ich kann nicht zu gestern zurückkehren, weil ich damals eine andere Person war.“ (Lewis Carroll) ©kingofmusic

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