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gwyn

Posted on 24.10.2022

Der Anfang: «Früh am Morgen, ehe der Wind des Tages erwacht, ehe das Schieben des Meeres sich in ein Ziehen verwandelt, gibt es nichts, das den Dunst stört, der über dem Wasser schwebt. Nichts außer mir. Meine Familie schläft, alle nach oben gestiegen, um Atem zu holen am Ende einer ermüdenden Nacht, in der wir Lachse gesucht und nicht gefunden haben. Wir schwimmen Seite an Seite, ich schaukle in Rückenlage dicht unter der Oberfläche. Jeder Schlag meiner Flossen erzeugt einen Ring auf dem stillen Wasser. Die kleinen Wellen stupsen sanft gegen den Dunst. Er wirbelt auf und verzieht sich aus meinem Weg, als wenn ich etwas Riesiges wäre, eine steigende Flut oder ein Sturm.» Tauch mit mir ab in die Salische See, hinunter in die Lebenswelt einer Orca-Familie. Dies ist auf der einen Seite ein spannender Kinderroman, andererseits ein erzählendes Sachbuch. Denn in die Geschichte ist eine Menge Wissenswertes über Orcas und andere Wale eingeflochten. Das Orca-Mädchen Wega soll einmal die Wegfinderin ihrer Familie werden. Jeder in der Walfamilie erhält eine Aufgabe. Die Wegfinder müssen die Gruppe leiten, sie durch die Salische See zu den Futterstätten führen. Wega kennt alle Buchten und Landzungen ihres Meeresarms, weiß alles über Lachse und eine Menge über die Menschen und ihre Boote, die mit Lärm und Schmutz den Tieren im Meer Schaden zufügen. Die Orcas orientieren sich durch «Klicks» und hören; sie nutzen dazu spezielle Geräusche zur Orientierung (durch Schallwellen), haben eine ausgeprägte Kommunikation untereinander und gebrauchen sie als Waffe bei ihren Beutezügen. Orcas besitzen ein komplexes akustisches Vokabular. Wir erleben das Familienleben einer Schwertwalfamilie aus der Sicht der Wale. Nicht alle Orcas ernähren sich von Robben; diverse Gruppen sind spezialisiert – diese hier ist auf die Lachse angewiesen. «Wir sind ein toller Anblick, wenn wir unterwegs sind. Eine Finne hinter der anderen schneidet durchs Wasser und erhebt sich wie eine Meereswelle, schnell, geschmeidig und stark. Haie verziehen sich ins Dunkel, wenn wir in Sicht kommen. Aale gleiten tiefer in ihre Höhlen. Möwen stieben auseinander. Seehunde schauen uns von ihren Ruheplätzen mit ihren großen Augen zu.» Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des Walmädchens Wega und ihrem Bruder Deneb. Eine Geburt steht bevor, Wega freut sich auf ihre neue Schwester, doch die Familie ist verzweifelt, da sie nicht auf die erwarteten Lachse stoßen, die sie dringend als Nahrung brauchen. Orcas sind sehr soziale Tiere, teilen sogar die Nahrung miteinander, passen gegenseitig auf sich auf, leben im Familienverband. Als Wega sich ein wenig von der Familie entfernt hat, bricht plötzlich ein Seebeben aus, turmhohe Wellen rasen auf die Küste zu. Wega ruft alles ab, was die Großmutter ihr beigebracht hat, schwimmt um ihr Leben ... Wen wird sie wiederfinden? Und gibt es überhaupt noch Lachse? Haiattacken, Begegnungen mit anderen Walen, ein im Netz verfangener Wal, ungenießbares Essen, ein Seebeben, Menschen retten ... ein spannendes Tierabenteuer! «Was das Wasser berührt, berührt uns alle.» Gleichzeitig schafft Rosanne Parry empathisch dem Lesenden einen realistischen Zugang zu einer Schwertwalfamilie, ohne in Kitsch oder Märchen abzudriften. Erzählung und Sachinformation sind hervorragend verknüpft. Eine spannende Geschichte, bei der man ganz nebenbei eine Menge über Orcas, andere Wale und Meerestiere lernt, sich in die Tiere hineinversetzt und so etwas über ihre Probleme zu erfahren. Hunger durch Überfischung, verschmutzte Meere, Klimawandel, der Lärm der Schiffe schadet ihrem Orientierungssinn, Fischernetze, Verletzung durch Schiffe – die Jagd auf Orcas durch den Menschen. Aber etwas hat mich verwirrt: Bis ich verstanden habe, dass es hier zwei Perspektiven gibt, hat es gedauert – ich war anfangs ein paarmal desorientiert. Der Perspektivwechsel wird schwer deutlich. Und wenn ich mich als viellesende Erwachsene ständig fragen muss, wer erzählt hier gerade?, wird es für ein Kind weitaus kniffliger. Das hätte man durch Überschriften verdeutlichen können. Das Buch ist durchgehend von Lindsay Moore illustriert mit wundervollen (teilweise doppelseitigen) schwarz-weiß Tuscheillustrationen. Perfekt wird das Buch am Ende durch Informationen über verschiedene Wale, Lachse und andere Meeresbewohner, eine Beschreibung der Salischen See und deren Lebensbereiche ergänzt. Es gibt auch eine Zeichnung der Kopf-Organe der Orcas, bei dem die Funktionalität der Sprache erklärt wird. Der Coppenrath Verlag empfiehlt das Lesealter ab 9 Jahren. Das ist für mich passend. Ein klasse Kinderbuch, das ich unbedingt empfehle! «Während ich diese Geschichte schreibe, sind die Orcas vor der Westküste der USA und Kanadas, die diese Erzählung inspiriert haben, so bedroht wie nie zuvor. Ihre Zahl ist so niedrig wie fast noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen. Umweltverschmutzung und Schiffslärm haben diese wunderbaren Tiere an den Rand des Aussterbens gebracht. Und was noch erschreckender ist: Genau die Aspekte des Klimawandels und der Umweltverschmutzung, die den Orcas schaden, sind auch für Menschen gefährlich.» Rosanne Parry lebt mit ihrer Familie in einem alten Bauernhaus in Portland, Oregon, USA. Ihr Großvater wurde in Berlin geboren und emigrierte als Teenager nach Amerika. Rosanne Parry hat vier Kinder, manchmal auch einige Hühner und Kaninchen. Die mehrfach preisgekrönte Autorin schreibt ihre Bücher am liebsten in einem Baumhaus in ihrem verwilderten Garten. Lindsay Moore ist eine Künstlerin und Autorin mit Wurzeln im Norden von Michigan. Sie studierte Meeresbiologie und bildende Kunst am Southampton College auf Long Island und Figurenzeichnen an der Art Students League of New York; und sie erwarb ihren Master of Science in medizinischer und wissenschaftlicher Illustration am Medical College of Georgia, jetzt Augusta University. Lindsay Moore lebt mit ihrer Familie in den Wäldern im Nordwesten von Ohio.

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