kingofmusic
Schonungslose Abrechnung In schöner Regelmäßigkeit genieße ich seit ein paar Jahren die neuen Bücher, Texte in Anthologien etc. der Autorin und Herausgeberin Marianne Labisch. Nun hat sie ihre Autobiografie mit dem Titel „Überleben, irgendwie“ veröffentlicht. Von „genießen“ kann hier allerdings thematisch gesehen leider keine Rede sein…Der Titel sorgt zunächst (vielleicht) für Verwirrung; spätestens nach der Lektüre weiß man aber, WIE passend er gewählt ist. Die Leserinnen und Leser begleiten die Autorin durch eine Kindheit, die von Alkohol, sexuellem Missbrauch und Gewalt nur so strotzt. Und trotzdem überlebt Marianne, irgendwie. Geboren in München, aufgewachsen im südlichen „Pott“ (Ennepetal und Gevelsberg) beißt sich die Autorin ihren Weg schon früh durchs Leben. Dabei hilft ihr mitunter auch die (bis heute erhaltene) Fantasie – irgendwohin muss man sich ja flüchten, wenn die Realität „aus dem Ruder“ läuft… Sie lernt schon früh, Verantwortung für sich und ihre Geschwister zu übernehmen (soweit es geht). Etwa, wenn die Eltern abends weggehen oder sie den besoffenen Vater aus der Kneipe abholen muss. Oder sie sich gegen stärkere Mitschüler durchsetzt und sich auch nicht zu schade ist, sich zu prügeln – was ihr wenigstens etwas Respekt einbringt. Diesen „Kampfgeist“ gilt es zu bewundern. Insbesondere wenn man von den sexuellen Übergriffen liest, die sie durch ihre Jugend begleiten. Etwa durch ihren Opa oder die mehrfache Vergewaltigung durch ihren Vater, der sich später auch noch an der jüngeren Schwester verging. Auf die Unterstützung weiterer Familienmitglieder oder auch der Polizei und des Jugendamtes kann sie nicht zählen – man nimmt sie schlicht nicht ernst. Da ist es nicht verwunderlich, dass die Autorin (Selbst-)Mordgedanken hegt und – als sich die Gelegenheit bietet - von zu Hause abhaut. Wie jede(r) Jugendliche erlebt Marianne aber auch die erste (große) Liebe, die ihr (langfristig gesehen) zeigt, dass Männer nicht nur Schweine sind – immerhin ist die Autorin schon lange mit ihm verheiratet :-). Das Niederschreiben ihrer Erlebnisse ist bzw. war eine Art Therapie für die Autorin; im Nachwort gibt es anhand mehrerer Briefe an ihren (toten) Vater, an die schon früh durch einen Autounfall zu Tode gekommene Mutter, Onkel, Tante, Oma eine gnadenlose (General-)Abrechnung mit ihrer Familie, bei der sie kein Blatt vor den Mund nimmt. Die Geschichte von Marianne steht exemplarisch für viele gleichgeartete und soll aufmerksam machen: hinter einem scheinbar harmlosen Leben kann auch ein schweres Schicksal stecken. Wenn ihr also eine Vermutung habt oder es Hinweise auf Gewalt an Kindern in eurer Nachbarschaft etc. gibt – zögert nicht, mit den zuständigen Stellen in Kontakt zu treten. Für den Mut, ihre Geschichte zu erzählen (Achtung: hier wird kein hochliterarischer Text geboten, der einen Preis verdient – nein, hier regiert die Nüchternheit, das Unscheinbare und wirkt alleine dadurch bedrohlich genug!!!), für die Offenheit und – wie schon erwähnt – für den Kampfgeist Mariannes zücke ich 5* und spreche eine klare Leseempfehlung aus. ©kingofmusic