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Buchdoktor

Posted on 18.10.2022

David Baptiste von der Antilleninsel Black Conch hält mit Hilfe seines Tagebuchs Rückschau auf seine Jugend vor 40 Jahren, als vermutlich der Hurrican Rosamund eine Meerjungfrau in die Gewässer seiner Heimatinsel getrieben hatte. Ebenso denkbar wäre, dass Meerjungfrauen Hurrican-Serien verursachen. In einer Kultur, die Legenden von Meermännern und Flussnixen pflegt und unausgesprochene Tabus achtet, wirft man diese Wesen am besten sofort ins Wasser zurück, um Unglück von sich und seinen Nachbarn fernzuhalten. Die Tradition stammt noch aus einer Zeit, als Menschen dem Meer nur entnahmen, was sie selbst verbrauchen konnten. Als beim Angelwettbewerb auf Blauen Marlin und Schwertfisch zwei amerikanische Touristen mit zwei einheimischen Jungen eine Meerjungfrau mit Rücken-Stacheln an Bord ziehen, ist es mit der Vernunft vorbei. Sie sehen allein den Profit, den ein Verkauf ihres Fangs an ein Museum bringen könnte. Insel-Polizist Porthos will Aycayia als gefährliche Fremde ohne Papiere gleich verhaften; denn sie könnte Krankheiten einschleppen. David stiehlt das Wesen, versteckt und beschützt es und wird Augenzeuge, wie Aycayia vom Volk der ausgestorbenen Taino ihre Haut samt Schuppen, Schwimmhäuten und Fischschwanz abwirft und sich wieder in eine Frau zurückverwandelt. Die größere Verwandlung macht jedoch die Dorfgemeinschaft durch – und David, der seine vorgegebene Männerrolle in Frage stellen muss. Bisher kannte er nichts anderes als Frauen, die brav die Hausarbeit erledigen, während Männer durch die Welt strolchen. Davids Gedanken, dass er die Fischerei aufgeben müsse, wenn er mit einer Meerfrau lebt und verhüten müsse, wenn sie kein Mischwesen mehr ist, finde ich sehr berührend. Bis hierher wäre Monique Roffeys Roman allein eine Fabel über ein Wasserwesen, es tritt jedoch noch die Weiße Miss Arcadia Rain auf, Nachfahrerin von Plantagenbesitzern, die Sklaven aus dem Kongo besaßen. Arcadia regiert von der Familienvilla auf dem Hügel aus die Berge, ihre Cousine Ce-Ce herrscht über die Bucht. Arcadia und ihr gehörloser Sohn Reginald/Reggie stehen symbolisch für die Sprachen- und Völkervielfalt der Insel mit ihren roten, weißen und schwarzen Einwohnern, die mehrere Sprachen sprechen und die Gebärdensprache beherrschen. Für die Mischung aus Kreolisch, Pidgin- und normalem Englisch stehen Dopplungen in der Umgangssprache (der Motor tuckertuckerte) und verschliffene Wortenden. Sprachlich ist der Roman ein Fest mit seinen Lästereien über auf dem Meer hilflose Weiße, die verächtliche Feindseligkeit der Touristen gegenüber den Meereswesen (das Viech, das Aas, die Kreatur), Eifersüchteleien der Frauen gegenüber Aycayia und nicht zuletzt Davids Sanftheit seinem Schützling gegenüber. Es geht u. a. um kulturelle Vielfalt, die Abhängigkeit vom Tourismus, Klimawandel, Machismo, Gewalt und die Herausforderung, wenn aktuelle Probleme mit alten Mustern nicht mehr zu lösen sind. Erzählt wird in drei Tonlagen: aus dem Tagebuch Davids, den Versen Aycayias und aus der Perspektive des allwissenden Erzählers. Ein sprachlich und inhaltlich ungewöhnliches Buch, das ich sicher noch einmal lesen werde.

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