Profilbild von Buchdoktor

Buchdoktor

Posted on 18.10.2022

Raynor Winns erstes Buch "Der Salzpfad“ erzählte von der gemeinsamen Fernwanderung mit ihrem Mann Moth auf dem South West Coast Path in Cornwall, zu der sie als Obdachlose nach Privatinsolvenz und der Diagnose CBD (kortikobasale Degeneration) bei Moth aufbrachen. Inzwischen leben sie wieder auf einer kleinen Farm. Trotz regelmäßiger körperlicher Arbeit im Obstgarten hat sich Moth' Zustand wieder verschlechtert; seine geistige Leistungsfähigkeit litt merklich durch die erzwungene Isolation während der Corona-Krise. Da die 1000km-Wanderung auf dem South West Coast Path damals eine erstaunliche Besserung der degenerativen Krankheit bewirken konnte, drängt Raynor auf ein neues Wanderprojekt, die Durchquerung Großbritanniens von Nord nach Süd, um der Krankheit ein Schnippchen zu schlagen. Sie zweifelt, ob sie einen unheilbar Erkrankten in eine dünn besiedelte Gegend schleppen darf, in der sie im Notfall keine Hilfe bekommen werden. Eine besondere Herausforderung wird sein, dass Moth' Fähigkeit, sich zu entscheiden, merklich abgenommen hat. Auf ihrer ersten Etappe Sheigra - Fort William muss die nicht kartierte Route jedoch ständig dem Wetter und den Bodenverhältnissen angepasst werden, Flüsse sind zu durchqueren, von Mückenschwärmen noch nicht zu reden. Am Ende werden die beiden rund 60-Jährigen die britische Insel in 6 großen Etappen zu Fuß und eine Strecke mit dem Rad durchquert haben. Sie schwimmen dabei gegen den Strom, weil offenbar alle anderen Wanderer im Süden starten. Das Paar erlebt ein von der Isolation durch den Brexit und neu aufflammender Feindseligkeit gegenüber Unbekannten in der Corona-Krise geprägtes Land. Neue Wanderschuhe in der gängigsten Größe sollte man in Englands Geschäften nicht mehr erwarten, während sich an den Grenzen Import-Waren an der Zollabfertigung stauen. Das eng gedrängte Übernachten in Hütten ist während einer Pandemie nicht zu empfehlen, so dass das Paar meist im Zelt übernachtete – und prompt auf Ressentiments gegenüber Menschen „mit großen Rucksäcken“ stieß, die sie an ihre Obdachlosigkeit erinnerten. Die Situation Obdachloser nimmt Raynor seit der ersten Fernwanderung mit feinen Antennen wahr. Die erste Etappe der Wanderung bietet Gelegenheit über Landflucht, Überweidung, Zerstörung der Moore und die Abhängigkeit Schottlands vom Jagdtourismus zu grübeln. Südlich von Fort William blicken die beiden Extrem-Wanderer auf Landschaften, die Schottland-Reisenden vertrauter sein werden als der äußerste Nordwesten des Landes. Nach jeder Etappe hätte sich die Möglichkeit geboten, abzubrechen. und jedes Mal entscheiden die beiden sich, weiter zu wandern - bis zurück nach Cornwall. Raynor und Moth wachsen an ihren Herausforderungen. Sie wirken gelassener als während ihrer Cornwall-Umrundung. Das Fehlen der Klagespur aus dem ersten Band lässt den Bericht über ihr jüngstes Abenteuer reflektierter und ermunternder wirken. Auch der Running Gag trägt dazu bei, wenn Raynor und Moth unterwegs mehrfach aufgefordert werden, doch bitte das berühmte Buch dieser Raynor Winn zu lesen – es würde sicher ihr Leben verändern. Die Durchquerung Post-Brexit-Großbritanniens durch Raynor und Moth hat mich als Publikum im Lesesessel weniger gestresst als ihre Blauäugigkeit im ersten Buch. Ihr Bericht hinterlässt bei mir das melancholische Fazit, dass man auf Reisen nichts aufschieben sollte, denn das Leben könnte dazwischen kommen ...

zurück nach oben