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letterrausch

Posted on 16.10.2022

Ein Fantasysetting, das ein bisschen an Frankreich erinnert. Eine Religion, die definitiv die christliche ist. Ein episch breit angelegter Plot. Ein nicht wirklich liebenswerter Held. Ein aussichtsloser Kampf Gut gegen Böse. Und das Ganze mit Vampiren – da kann ich natürlich nicht nein sagen. Und nachdem ich den 1000-Seiten Backstein „Das Reich der Vampire“ von Jay Kristoff ausgelesen habe, geht es nun an die Beantwortung der Frage: Lohnt sich das? Die Rahmenhandlung erinnert an Scheherezade – oder, wenn man im Vampirgenre bleiben möchte, an „Interview mit einem Vampir“. Der Protagonist unserer Geschichte, Gabriel de Leon, ist der letzte seiner Art: Ein Silberwächter, dessen ganzes Leben im Dienst des Kampfs gegen die Vampire steht. Diese sind nämlich seit dem Tagestod eine echte Gefahr geworden, denn die Sonne scheint nicht mehr wirklich, und die ewige Nacht sorgt nun dafür, dass immer mehr Vampire das Land überrennen und Krieg gegen den König führen. Doch zu Beginn des Buchs befindet sich Gabriel in Gefangenschaft und sieht seinem Tod entgegen. Vorher soll er allerdings noch einem Biographen (natürlich ein Vampir) seine Lebensgeschichte erzählen. Als Leser dieses Romans muss man zunächst gedanklich in Vorleistung gehen und die gegebene Welt am besten ohne weiteres Nachdenken akzeptieren. Denn natürlich macht es wenig Sinn, dass menschliches (und anderes) Leben nach dem Fast-Verlöschen der Sonne weiterbesteht. Laut Kristoff ernähren sich die Menschen fast ausschließlich von Kartoffeln und Pilzen. Wovon sie allerdings die noch existierenden Hunde und Pferde ernähren, bleibt das Geheimnis des Autors. Was trägt man, wenn es keine Schafe mehr gibt, die Wolle liefern? Was fangen die überlebenden Menschen mit ihrer Zeit an, wenn sie sie nicht mit Landwirtschaft füllen müssen (bzw. können)? Die Welt, die hier aufgemacht wird, steckt fest, stagniert, und wartet praktisch nur darauf, von Vampiren übernommen zu werden. Diese Welt ist das Tableau, auf dem Kristoff sein Spiel ablaufen lässt, die genauere Logik dieser Welt sollte man allerdings nicht mit zu viel Neugier hinterfragen. Über die Vampire dieser Welt erfährt man zunächst auch nicht viel. Kristoff bedient sich eines interessanten Kniffs: In seiner Welt wird nicht jeder zum Vampir – manche stehen nach dem Biss gar nicht wieder auf. Manche erst nach Wochen. Durch den dann bereits stattgefundenen Verwesungsprozess handelt es sich dann allerdings um „Elende“; hirnlose, bluttrinkende Zombies, die in marodierenden Banden durchs Land ziehen. Wer relativ schnell nach dem Tod durch Biss wiederaufersteht und damit viel der eigenen Persönlichkeit behält, ist ein Edelblut – je älter desto unzerstörbarer. Diese Edelblüter gehören verschiedenen Clans mit verschiedenen Eigenschaften an. Doch so richtig viel erfahren wir nicht über sie. Sie sind dazu da, unglaublich böse, unglaublich hartnäckig und unglaublich unzerstörbar zu sein. Darüber hinaus haben sie kaum Charaktereigenschaften oder Motivation. Unsere Silberwächter nun – zu denen ja auch Gabriel gehört – sind Halbblüter: Söhne von menschlichen Müttern und vampirischen Vätern. Dadurch sind sie natürlich stärker und widerstandsfähiger als normale Menschen, doch sie haben auch den Blutdurst der Vampire geerbt. Die Silberwächter sind in einem religiösen Orden organisiert, der ihrem Blutdurst und ihrer Sonderstellung in der menschlichen Gemeinschaft einen religiösen Überbau gibt und sie fest in eine Glaubensgemeinschaft verankert. Dieser Glaube ist ganz eindeutig ein christlicher. Es gibt eine Jesusfigur, eine Mariafigur, es gibt ein Kreuz (hier ist es ein Rad) und den Moment, in dem der Erlöser rituell getötet wird, um die Sünden der Menschen kollektiv zu sühnen. Diese Parallellen sind auch für diejenigen mehr als deutlich, die mit der Bibel nicht viel am Hut haben und man fragt sich zwangsläufig, warum Kristoff seine Handlung überhaupt in ein Fantasysetting verlegt. Der Roman hätte in unserer Welt, mit unserer Religion (und der zusätzlichen Prise Vampirismus) genau so funktioniert. Einzige Erklärung – für mich – sind die Verwicklungen rund um Dior Lachance (mehr zu sagen wäre ein Spoiler). Offenbar wollte Kristoff sich vor jeglicher Diskussion drücken – dann hätte er aber natürlich auch eine „eigene Religion“ erfinden können anstatt das Neue Testament zu plündern. „Das Reich der Vampire“ ist ein Mammutwerk voll von Versatzstücken und Anspielungen. Von „Interview mit einem Vampir“ über „Dracula“ zu „Sturmhöhe“ bis hin zu „Vampire: The Masquerade“ und „Blade“ ist alles dabei. Sogar „Heinrich V“ kann man hier wiederfinden. Trotzdem wirkt der Roman nicht „geklaut“. Stattdessen verkörpert er das heutige Lebensgefühl, das auch in der Kultur verschiedenste Quellen zu neuen Ideen verquickt. Soll heißen: Kristoff bringt seine Methode der literarischen Kollage hier zur Meisterschaft und schafft etwas Originäres, Eigenes. Dem darf man ruhig applaudieren, schafft es doch nicht jeder Autor, aus so einem Unterfangen nicht als gemeiner Dieb herauszugehen. Gabriels Memoiren von seiner Kindheit bis zu seiner Queste, den heiligen Gral zu finden (man merkt: noch mehr Christentum), lesen sich spannend und flott, auch wenn Gabriel selbst kaum ein echter „Held“ sein mag. Er flucht, er säuft, er ist vom Glauben abgefallen und er ist ein hoffnungsloser Zyniker. Und doch ist er komplex und Kristoff lässt sich 1000 Seiten Zeit, diese Komplexität von alle Seiten zu beleuchten. Und wer denkt, dann wäre die Geschichte zu Ende der irrt: Man sollte sich zumindest auf eine Trilogie einstellen, Gabriels Abenteuer sind am Ende dieses Romans längst nicht an ihrem Schlusspunkt angekommen. Unsere vampirjagende Scheherezade hat noch nicht ihre letzte Geschichte erzählt!

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