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Buchdoktor

Posted on 12.10.2022

Hüsein Yilmaz wird nach Jahrzehnten der Fabrikarbeit in Deutschland in Rente gehen und nach Istanbul ziehen. Doch wenige Tage vor Rentenbeginn stirbt er überraschend; Frau und Kinder reisen zur Beerdigung an, die innerhalb von 24 Stunden stattfinden muss. Gleich zu Beginn wird deutlich, dass Hüsein sich für den Kauf der Wohnung abgerackert hat, damit seine Familie hier glücklich ist. Der Kauf war allein sein Projekt, und er hat vermutlich keine Vorstellung davon, was seine Frau Emine und die erwachsenen Kinder glücklich machen würde. Ein Wohnung in der Türkei ja, aber warum ausgerechnet Istanbul? Die Yilmaz stammen aus einem kurdischen Dorf. Kurdisch durfte jedoch nicht gesprochen werden, aus Gründen, über die Hüsein sich erfolgreich ausschwieg, die jedoch wie ein Schatten über der Familie hängen. Sechs Kapitel wenden sich jeweils einem Familienmitglied zu. Emine und Hüsein werden in der Du-Form angesprochen, über die Töchter Perihan und Sevda, die Söhne Hakan und Ümit erfahren wir von einer allwissenden Erzählerstimme. Die älteste Tochter Sevda blieb für 10 Jahre bei den Großeltern irgendwo an der Grenze zu Armenien zurück, ehe die Eltern sie als 15-Jährige endlich zu sich nach Deutschland holten. Als sie sehr jung an den erstmöglichen Landsmann verheiratet wird, könnte man aus heutiger Sicht auf die Idee kommen, dass Sevda möglichst schnell aus dem Haus sollte, damit ein anderer Mann sie vor der bösen Welt außerhalb der Wohnung beschützen wird. Sevda wird ihren Eltern ihr Leben lang übelnehmen, dass sie weder in der Türkei noch in Deutschland zur Schule gehen durfte. Ihrem Traum, eine erfolgreiche Geschäftsfrau zu werden, wurden so alle denkbaren Steine in den Weg gelegt. Die jüngere Schwester Peri kam mit 3 Jahren nach Deutschland, studierte, kokste und kiffte sich durch ihre Epoche; der Kontakt zum Vater war seit Jahren abgerissen. Peri scheint die einzige zu sein, die ihren Bruder Ümit versteht und unterstützt, den soften Nachzügler, der gewiss die Vorstellungen seines Vaters von Männlichkeit nicht erfüllen kann. Auch der ältere Sohn Hakan macht Scherereien. Er hat seine Ausbildung geschmissen und könnte sich ein Leben als Rapper, Sprayer oder Breakdancer vorstellen. Hakan verübelt seinem Vater dessen Unterwürfigkeit gegenüber deutschen Amtsträgern und schiebt die Schuld an seinem Scheitern auf Hüseins fehlendes Vorbild ab. Als Emine, die Kinder und Enkel abgehetzt und auf verschiedenen Wegen in Istanbul ankommen, verschlägt Emine eine Nachricht die Sprache: auch ihre Schwägerin Ayse wird kommen, um Hüsein zu betrauern. Wie konnte sie nur!? Die Kinder setzen sich in der kurzen Zeit bis zur Trauer in Gedanken mit ihren Eltern auseinander und ihren persönlichen „Dschinns“. Das letzte, an Emine gewandte Kapitel deckt mehr als nur ein Familiengeheimnis auf. Es gibt Sevda die Gelegenheit, Emine vorzuwerfen, sie wäre die Frau gewesen, die Hüsein stets vorschob, weil sie ihren Kindern kein freieres Leben gönnte als sie sich für sich selbst vorstellen konnte. Mein Urteil über das Buch fällt gespalten aus. Auf den ersten 200 Seiten habe ich nichts, gar nichts erfahren, das ich in den 80ern nicht aus Erzählungen türkischer Kolleginnen erfahren und miterlebt hätte. Auch der Kontrast zu Lebensbedingungen deutscher Arbeitertöchter schien mir gering, die nicht selten noch in den 80ern hart gegen die Einstellung zu kämpfen hatten, dass Mädchen sowieso heiraten und sich eine Ausbildung für sie nicht lohnt. Der Roman schien sich allein an die Generation Y und Z zu wenden, die das Entstehen von Parallelgesellschaften nicht bewusst miterlebt hatten. Kurz bevor ich abgebrochen hätte, nahm die Handlung jedoch noch unerwartete Wendungen. Wenn Frauen wie Emine andere Frauen unterdrücken, bräuchten patriarchalische Gesellschaften dazu keine Männer, sondern allein die Deutungshoheit - könnte das Motto dieses Romans sein. Abgesehen davon, dass die Familiengeschichte der Yilmaz dicht, empathisch und intelligent erzählt wird, zeigt sie beispielhaft, welchen Einfluss Sprache als Werkzeug hat, und welch zerstörerische Wirkung Sprachlosigkeit erzielt. Die Thematik von Sprache als Werkzeug verbindet „Dschinns“ mit Mitbewerbern um den Deutschen Buchpreis 2022.

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