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Buchdoktor

Posted on 10.10.2022

Mit seinen zahlreichen Zahlenangaben und Quellenhinweisen wirkte Cho Nam-Joos Roman „Kim Jiyoung, geboren 1982“ streckenweise wie eine sozialwissenschaftliche Arbeit zur Lage koreanischer Frauen. Daher war ich sehr neugierig, ob auch ihre Kurzgeschichten im Fakten-Fiktion-Mix verfasst sein würden. Handwerklich ausgefeilt zeigt die Autorin jedoch nach allen Regeln der Kunst in jeder Story einen Ausschnitt aus dem Alltag von Mädchen und Frauen zwischen 10 und 80 Jahren, erzählt in der Ichform. In „Unter dem Pflaumenbaum“ treffen wir Dongju, die noch nicht einmal einen eigenen Vornamen wert war, sondern als „letzte Tochter“ dem Aberglauben ihrer Mutter zu dienen hatte, die später prompt zwei Söhne gebar. Nachdem sie als Jugendliche ihre Geschwister aufgezogen hatte, ertrug sie das Joch ihre enttäuschenden Ehe, unterstützte ihre Schwester und betreute schließlich ihr Enkelkind. Schicksale wie Dongjus, die Pflichten von ihrer Mutter nach unten durchgereicht zu bekommen und auch im Alter daran gekettet zu bleiben, ziehen sich durch alle 8 Kurzgeschichten. Die Hauptfiguren sind nicht etwa klassische Hausfrauen, unter deren Dach erwachsene Söhne wieder zu Kindern werden, da Männer ja nicht aufräumen und putzen können, sondern auch junge, berufstätige Frauen. In „Trotz“ lernen wir eine erfolgreiche Autorin kennen, die mit einer ehemaligen Lehrerin einen juristischen Streit um eine Roman-Idee auszufechten hatte. Heute ist sie als Mutter aller Feministinnen verschrien und Ziel von Hasskommentaren in den sozialen Medien - weil sie über Frauen in patriarchalischen Strukturen schreibt. In „Weggelaufen“ hebt ein 72jähriger Familienvater, der im Arbeitsleben nicht einen Tag gefehlt hatte, sein gesamtes Vermögen ab und verschwindet. Endlich will er tun, was ihn interessiert. Er lässt eine lebensuntüchtige Frau zurück, die sich ihm in allen Fragen unterworfen hatte, freiwillig, wie er behaupten würde. Miss Kim aus der titelgebenden Erzählung ähnelt verblüffend Figuren, die in hierarchischen Strukturen zwar nicht für ihre Bedürfnisse einstehen können, aber mit der „Rache des Archivars“ bei ihrem Abgang ein heilloses Durcheinander hinterlassen, das Chefs und Kollegen so bald nicht vergessen werden. In „Lieber Hyunnan“ kämpft sich die Erzählerin aus der toxischen Beziehung mit einem Kontrollfreak, dem sie leichtsinnig sämtliche Entscheidungen über ihr Leben überlassen hatte. „Nacht der Polarlichter“ stellt uns eine fast 60-Jährige und ihre Schwiegermutter vor, die gegen das Tabu verstoßen, dass eine Süd-Koreanerin nicht mit ihrer Schwiegermutter befreundet sein darf - und vor allem nicht ihr Alter frei von Care-Arbeit genießen. „Große Mädchen“ zeigt die Probleme einer Tochter auf, deren Mutter ihr Leben lang für Frauenrechte aktiv war und im hohen Alter doch in die Falle der Care-Arbeit tappt, die heruntergereicht wird, bis es keinen Widerspruch mehr gibt. Wir erleben nicht nur Süd-Korea-typische Konflikte. Cho Nam-Joo zeigt beispielhaft, wie in den Industriestaaten gerade der Generationenvertrag gekündigt wird, indem die Care-Arbeit (z. B. durch unzureichende staatliche Kinderbetreuung) wieder als privates Problem definiert wird. Gestresste Väter sind ohnehin nicht verfügbar, Mütter hetzen sich zwischen Kita und weiteren Babysittern ab. Die Frauen jedoch, die am Ende einspringen, werden im Alter niemanden mehr haben, der sie pflegt. Patriarchalische Strukturen und toxische Beziehungen breiten sich aus, wo Frauen ihnen Raum bieten, das wird in diesen Geschichten deutlich.

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