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wandanoir

Posted on 8.10.2022

Von Achtsamkeit und Akzeptanz Der vorliegende Roman, Originaltitel „The book of Form and Emptiness“ gewann 2022 den „Women’s prize for fiction“. Nun ist man natürlich neugierig, was das für ein Roman ist. Es ist, so viel sei schon einmal verraten, ein seltsamer Roman und einer, mit dem viele Leser ihre Schwierigkeiten haben dürften, denn er ist verknäuelt, mit anderen Worten, sein Aufbau ist ein wenig unübersichtlich. Es ist ein Roman, dem zwar ein ernsthaftes Thema zugrundeliegt, nämlich eine psychische Erkrankung, der jedoch immer wieder ins Märchenhafte abdriftet. Die psychische Erkrankung ist ernst, ein 12jähriger Junge verkraftet den plötzlichen Tod des Vaters nicht und er beginnt, sich allerhand einzubilden. So hört er plötzlich, wie die Dinge zu ihm sprechen. Sofort leuchten bei uns alle Alarmlampen auf, psychisch krank, ganz schlimm, unzurechnungsfähig, Psychiatrie, Isolation, Ausgrenzung, nicht gesellschaftsfähig. Ruth Ozeki allerdings macht uns klar, dass Benny, der Stimmenhörer, nicht so ganz ausserhalb der Normalität steht, wie wir denken. Und damit macht sie auch der Leserschaft klar, dass die Gesellschaft es sich oft zu leicht macht, mit Menschen, die eine psychische Auffälligkeit haben. „Na und“, sagt eine der Figuren, „viele Menschen hören Stimmen.“ Ozeki geht spielerisch mit ihrem Thema um. Dieses Spielerische mag aus ihrer Kindheit kommen, denn sie sagt in einem Interview: „As a child, I related to objects as though they were semi-sentient, and even now I think about the stories that things could tell if only they could speak.“ Das ist ein entzückender Ansatz, der dazu führen könnte, dass wir alle achtsamer werden im Umgang mit Dingen. Aber die Dinge könnten auch die Herrschaft übernehmen – und dann wird es unangenehm. Mit den Dingen beschäftigt sich nämlich auch Bennys Mutter, Annabelle, die durch den Tod ihres Mannes ebenfalls aus der Bahn geworfen wird. Sie versucht tapfer sich ihren Problemen zu stellen, drohende Arbeitslosigkeit, Mietklage, Einsamkeit, Bennys Krankheit, aber alles wächst ihr über den Kopf und sie mutiert zum Messie. Die Botschaft, die Ruth Ozeki mit spielerischer Gelassenheit an die Leserschaft bringen will, ist leicht verständlich und wichtig: Grenzt Menschen nicht aus, die anders sind! Allerdings, und das macht ihren Roman gleichzeitig problematisch, bedient sie sich erstens einer recht kindlichen Sprache, die bei anspruchsvoller Leserschaft nicht ankommen dürfte, doch mag die simple Sprache dem Märchenhaften geschuldet sein, und zweitens pflastert sie ihren Roman mit sehr vielen skurrilen Gestalten, von denen man nicht immer weiß, ob sie real sind oder ob sie nur in Bennys Kopf existieren. Dann fängt sogar noch das Buch an zu sprechen, mal mit Benny „jeder Junge hat ein Buch in seinem Kopf“, mal mit dem Leser, ein weiteres Buch „Tidy Magic“, das Aufräumen bzw. Ordnunghalten thematisiert, kann ebenfalls sprechen. Es erteilt auf der einen Seite Zen-orientierten Rat, andererseits zieht es die japanische Mode, fremden Aufräumservice in Anspruch zu nehmen (Clips aus Japan, die man ganz zahlreich auch im Netz finden kann) durch den Kakao. Es geht auch viel um Bücher, so wird eine öffentliche Bibliothek zu einem magischen Ort. Der Kommentar: Benny und Annabelle kämpfen miteinander und umeinander und mit ihren psychischen Beeinträchtigungen. Sie sind eigentlich ganz zauberhafte Figuren. Antihelden, alle beide, aber lieb. Doch zwei sind hier einer zuviel. Wäre der Roman bei Benny und seinen Problemem geblieben, hätte er mir sehr gut gefallen. Das Märchenhafte hätte ich verkraftet. Doch die Messiemutter ist zuviel, auch die vielen seltsamen Abenteuer Bennys und seine neuen Freunde sind zu viel, der Roman ist übervölkert. Übervölkert mit Ideen, Figuren, Themen. Denn jede der auftauchenden Figuren belästigen den Leser mit grauenhaften oberlehrerhaften Monologen, es gibt Kapitalismusschelte, es gibt zahme Frettchen, es gibt Belehrungen über Walter Benjamin, über Jorge Louis Borges, über Politik, über Zen-Philosophie. Ich kann gar nicht alle Themen aufzählen, die im Vorbeilaufen angeschnitten werden. Dabei haben manche Stories dann auch wieder Charme, zum Beispiel die Geschichte einer uralten Tasse, die schon zerbrochen ist, während man sie noch heil in der Hand hält, weil Zen durch die Zeit hindurch aufs Ende schaut. Was bei allem schriftstellerischen Ausprobieren leider ein wenig verloren geht, ist der Leidensdruck, den eine psychische Krankheit verursacht. Durch Zen, Magie, das Spielerische und Märchenhafte spielt der Roman die Krankheit/en herunter. Ich bin da hin- und hergerissen, ja, einerseits, Krankheit ist normal und gehört zum Leben und da sie nun schon einmal da ist, sollte man sie akzeptieren, die totale Akzeptanz, aber andererseits wirkt sie eben auch lebenszerstörend und man kann sie nicht nur auf die leichte Schulter nehmen. Der Roman ist in seiner Konzeption so verknäuelt wie Bennys Innenleben; und überbordend in allem. Ob man der Weltanschauung des Romans folgen mag oder ganz anders empfindet, ist zudem reine Ansichtssache. Der Entwurf der Autorin Ruth Ozeki ist mal was anderes. Gewöhnungsbedürftig auf alle Fälle, mag aber Denkanstöße geben. Auf der Metaebene funktioniert dieser Roman ganz gut, auf der handwerklichen Seite hätte mehr drin sein können, zum Beispiel durch Straffung, Streichung, Kürzung und Fokusierung, zumal Zen dem Überbordenden kritisch gegenüber steht. Schade, das Thema der psychischen Krankheit ist nämlich wirklich wichtig. Fazit: Totale Akzeptanz mag der letzte Ausweg sein für Krankheiten aller Art und auch für diesen Roman. Ich hätte mir dennoch ein klareres und fokusierteres Vorgehen der Autorin gewünscht. Das Spielerische bringt die Thematik freilich auch an Leute heran, die sich vor niederdrückenden schweren Themen scheuen. Dies ist durchaus ein Verdienst, das man würdigen kann. Dafür gibt es von mir einen Extrastern, einen Sonderpunkt. Auch für Jugendliche ist das Buch hervorragend geeignet. Kategorie: Gute Unterhaltung Verlag: Eisele, 2022 Sieger des Women’s prize for fiction, 2022

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