Bris Buchstoff
Als Alex Schulman merkt, dass das Verhalten seiner Töchter ihm gegenüber merkwürdige Züge trägt, beginnt er die Gründe für diese Veränderung in ihrer Beziehung zu hinterfragen. Die Mädchen scheinen ihm gegenüber sehr vorsichtig, manchmal fast ängstlich, gerade wenn ihnen ein kleines Ungeschick passiert. Sie versuchen, seine Stimmungen auszuloten und sich dementsprechend zu verhalten – das kennt er zu genüge. Hat er doch als Kind selbst so gehandelt. Dass seine Töchter das nun auch tun, versetzt ihm einen Stich. Er beginnt, sich zu beobachten und bemerkt immer wieder Ausbrüche von Wut an sich. Als seine Frau nach einem erneuten, ungerechtfertigten weil unverhältnismäßigen Wutausbruch seinerseits, anmerkt, dass sie nicht weiß, wie lange sie das noch ertragen kann, handelt er. Er will herausfinden, woher diese Wut kommt, die in ihm steckt und begibt sich (erneut) in Therapie. Dort tut er das, was er schon lange vorhatte: Er macht eine Familienaufstellung … "In meiner Kindheit entwickelte ich eine Superkraft. Ich konnte Konflikte weit vor allen anderen vorhersehen. Ich bildete einen Radar aus für Wut, und den habe ich mit ins Leben genommen. Erst jetzt begreife ich, dass dieser Radar für alle außer für mich selbst funktioniert. Ich war blind für mein eigenes Verhalten." Was er schon lange fühlt, zeigt sich hier mir erschreckender Deutlichkeit und schockt ihn dennoch. Zwischen den Familienmitgliedern mütterlicherseits gibt es keine einzige funktionierende Beziehung. Schulman ist sich sicher, dass hier der Grund für sein eigenes Verhalten liegen muss. Es beginnt eine Recherche, die ihn auf die alte, in der Familientradition kolportierte Fehde zwischen seinem Großvater, Sven Stolpe, seines Zeichens Schriftsteller, und einem anderen bekannten schwedischen Schriftsteller, Olof Lagercrantz, aufmerksam macht. Dabei entdeckt er mehr als nur ein Familiengeheimnis. Mit „Verbrenn alle meine Briefe“ gelang Alex Schulman 2018 in Schweden der Durchbruch als literarischer Autor. Die Recherche über seine Familie hat er in eine spannend zu lesende, auf Fakten beruhende aber gleichzeitig fiktionale Geschichte verwandelt. Er selbst betont, dass es sich bei seinem Buch um einen Roman handelt. Eigentlich ging es ja darum, den Ursprung der eigenen Wut zu erkunden. Und daraus wird dann tatsächlich die Darstellung einer Dreiecksgeschichte, die auch eine prominente literarische Feindschaft erklärt. Schulman hat dazu Zugang sowohl zum Nachlass Sven Stolpes, auch zu den Tagebüchern von Olof Lagercrantz erhalten. Darin erzählt Lagercrantz, wie er Sven und Katrin Stolpe, die Großeltern Schulmans, in Zunächst wechseln sich Kapitel, in denen Schulman die Recherche nacherzählt mit Kapiteln ab, die ihn in die eigene Erinnerung im Jahr 1988 und damit zu einen Besuch bei den Großeltern zurückführen. Er weiß ganz grob, dass 1988 etwas passiert ist, etwas, das mit ihm und der ganzen Geschichte zu tun hat. Tatsächlich hatte er bei einem seiner Besuche bereits ein Geheimnis entdeckt, von dem die Familie später offen weiß: In einer der Schubladen seines Großvaters liegt eine Pistole. Die dazugehörige Munition fehlt ebenfalls nicht. Als dann noch die Tagebücher von Olof Lagercrantz in die Recherche aufgenommen werden, wächst auch die Struktur des Romans um einen weiteren Strang, nämlich den der reinen Fiktion, der sich den Ereignissen zuwendet, die im Juni 1932 in der Sigtuna-Stiftung ihren Lauf nahmen und die Basis für die lebenslange Feindschaft darstellen. So könnte es gewesen sein, die Eckdaten stimmen. Nach und nach setzt sich nicht nur Schulman, sondern auch für die Leser:innen das Bild zusammen, das zumindest die Verhältnisse zwischen Karin und Sven Stolpe deutlich vor Augen führt. Karin Stolpe ist tatsächlich eine sehr eigenständige, kluge Frau. Ihr Mann begegnet ihr mit einer Kälte, die zunächst nicht zu verstehen ist. Ein Geheimnis reicht hier nicht aus, das spürt man instinktiv. Nachdem ich letztes Jahr Schulmans Buch „Die Überlebenden“ über seine Kernfamilie gelesen hatte, war ich darauf gefasst, dass ich mit „Verbrenn alle meine Briefe“ zunächst ähnliche „Schwierigkeiten“ haben könnte. Aber weit gefehlt. Dieser Roman liest sich aufgrund der Ereignisse, die er thematisiert, spannend und lässt sich kaum aus der Hand legen. Große Empfehlung, auch wenn wieder einmal klar wird, wieviele Beziehungen doch aus Angst aufrecht erhalten werden. "Ich weiß nicht, ob du das richtig verstehen kannst – jetzt. Aber was ich sagen will, ist, dass ich das, was ich mir selbst einmal versprochen habe, nicht halten konnte. Man muss versuchen, das Leben mit Dingen zu füllen, die einen zufrieden machen, und manchmal kann man vielleicht auch nach Höherem streben und versuchen, glücklich zu werden und die Dinge, die einen glücklich machen, nicht auf die andere Seite hinübergleiten zu lassen. Sobald man das Gefühl hat, das Land das nicht ist, sei verlockender als das Land, in dem man ist, ist man übel dran."