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letterrausch

Posted on 1.10.2022

Ich gestehe: Ich habe ein etwas traumatisiertes Verhältnis zu Geschichte und Büchern über Geschichte. Eigentlich ging es dabei immer um Jahreszahlen, Könige und wen sie ehelichen, um sich politische Vorteile zu verschaffen, Kriege, die man gegen andere Länder führt und Grenzen, die sich in Landstrichen verschieben, von denen ich noch nie vorher etwas gehört hatte. Kurzum: Es ging um Daten, die mir nichts sagten und große Namen, die mir nichts bedeuteten. Und doch mag ich – und viele andere mit mir – historische Romane. Wie passt das zusammen? Ich denke, es liegt daran, dass der historische Roman mit einem heutigen, modernen Blick auf das Leben von Menschen anderer Epochen blickt und uns diese Menschen nahebringt. Was trieb sie um? Was fürchteten sie? Wo waren sie wie wir oder auch nicht? Letztlich überführt Ian Mortimer in seiner Reihe über die britische Geschichte das Erfolgsrezept des historischen Romans einfach nur in den Sachbuchbereich. Und doch, auf diese gewinnbringende Idee muss man erstmal kommen! So arbeitet sich Mortimer durch die Zeiten vor und erläutert seinem Publikum, wie Menschen damals gelebt haben. Für das Mittelalter hat er das bereits getan, für das elisabethanische Zeitalter und jetzt auch für’s Regency (1790-1830). Nur eine der deutschen Übersetzungen führt die Herangehensweise des Autors und seinen enorm erfolgreichen literarischen Kniff im Untertitel. Im Englischen hingegen weisen alle Bücher der Reihe prominent darauf hin, was sie sein wollen: „A Time Traveller’s Guide to ...“ Und so stellen wir uns mit Ian Mortimer zusammen vor, wir wären Zeitreisende, die es ins britische Regency verschlagen hätte. Was würde uns interessieren: Wie sehen die Städte aus, was isst man, wo wohnt man, wie vertreibt man sich die Zeit? Er behandelt lauter ganz praktische Fragen, die er mit Hilfe von unzähligen historischen Quellen (meist Tagebücher und Briefe) lebensecht beantwortet. Zunächst beschreibt er die Landschaft, die wir sehen. In unsere Zeit fällt die Erfindung der Telegraphie und der Dampfmaschine. Die Industrialisierung setzt ein, was zur Folge hat, dass einst ländliche Gegenden nun von Fabriken verschandelt sein können. Die Bevölkerung wächst rasant und die Schere zwischen arm und reich klafft deutlich auseinander. So besuchen wir nicht nur das bescheidene, aber vorzeigbare Häuschen eines Handwerkers, sondern auch Landsitze des Adels und Zimmer, in denen jede einzelne Ecke an eine andere arme Familie vermietet ist (und das mit der Ecke ist wörtlich zu verstehen). Für einen Zeitreisenden dürfte alles in diesem Buch relevant sein, für denjenigen, der „nur“ liest und sich geistig in die entsprechende Zeit versetzt, sind naturgemäß manche Kapitel spannender als andere. Mortimer geht auf die Architektur der Zeit ein, auf die Gesellschaftsordnung, Krankheiten und Medizin, Rechtswesen, zunehmende Literarisierung in der Bevölkerung, Fortbewegung und Unterkunft, Kulinarisches, Freizeitvergnügen und Kultur. Besonders spannend für diese Leserin war die Tatsache, dass er wirklich ausführlich über das Postkutschenwesen und die Entwicklung verschiedener ein- und zweiachsiger Kutschen schreibt. Wenn man eine ungefähre Ahnung von der durchschnittlichen Reisegeschwindigkeit per Pferd hat, sind die unglaublichen Durchschnittsgeschwindigkeiten, die damals erreicht werden konnten, sowohl beeindruckend als auch beängstigend (können sie doch nur auf Kosten des Pferdematerials gehen). Wem der equine Hintergrund abgeht, darf zumindest von dem Kapitel beeindruckt sein, das beschreibt, welche Strecken Menschen damals zu Fuß zurücklegten: 20-30km für einen Einkauf zu laufen, war damals offenbar keine große Sache … Zwei Dinge fehlten mir in dem Buch. Zum einen erläutert er zwar, wie viel Menschen verschiedener Gesellschaftsschichten damals pro Jahr verdienten. Auf Geld und was wie viel kostete, wird immer wieder eingegangen. Doch mir gelang es nie, ein wirkliches Verhältnis zu den Zahlen herzustellen. Auch am Endes des Buchs hatte ich noch kein Gefühl dafür, was nun viel und was wenig war – vielleicht hätten hier Umrechnungen in heutige Verhältnisse geholfen. Vielleicht bin ich auch einfach hoffnungslos, was Zahlen betrifft. Zum anderen finde ich, dass Illustrationen und Abbildungen das Buch noch bereichert hätten. Wie schön wäre es gewesen, die Mode der damaligen Zeit nicht nur beschrieben zu bekommen, sondern sie beispielsweise auf Gemälden oder Schnittmustern betrachten zu können. Gleiches gilt für die Architektur, die aufstrebenden Städte, gern auch die Kutschen, das Wohnambiente und die allgemeinen Lebensverhältnisse. Man verstehe mich nicht falsch: Mortimer schreibt extrem zugänglich, verständlich und anschaulich und oftmals sieht man die Janes-Austen-Verfilmung praktisch vor dem inneren Auge ablaufen – was fast genau so gut ist wie eine Abbildung. Und trotzdem, manchmal sagt ein Bild eben mehr als tausend Worte – einige Abbildungen wären das Sahnehäubchen auf einem ansonsten sehr lehrreichen und kurzweiligen Buch gewesen. Wer Geschichte einmal ganz lebensnah erleben will und trotzdem nicht auf wissenschaftlich fundiertes Wissen (der Anhang mit Quellen und Zitaten umfasst über 100 Seiten) verzichten will, der kann sich getrost in Mortimers Obhut begeben und mit ihm als Reiseleiter das Regency erkunden. Ich jedenfalls fühle mich für meine nächste Zeitreise bestens gerüstet

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