Buchdoktor
Elin und ihre Mutter überleben den Erdrutsch im nördlichen Norwegen nur, weil Elin schmollend zuhause bleiben wollte, um zur großen Familienfeier in Bjerka kein Kleid tragen zu müssen. Die Leichen der beiden älteren Brüder werden gefunden; nach Vater Björn wird lange gesucht – vergeblich. Der Abend vor dem Unglück wird im Rückblick zum letzten Tag in Elins Kindheit. 20 Jahre später und kurz nach dem Tod ihrer Mutter Wenche kommt Elin aus Oslo in ihr Elternhaus zurück, um es für den Verkauf vorzubereiten. Ihre Mutter hat alles aufgehoben und das Haus zum Museum gemacht – für Mann und Söhne und für die Dinge, die sie selbst aus aller Welt mitbrachte. In Elins Plan zum Hausverkauf klang aus meiner Sicht der reine Sachzwang mit, als würde sie auf einen Fingerzeig hoffen, wie sie das reparaturbedürftige Haus doch behalten könnte. Im Ort kennen alle Elin, aber sie erkennt nicht alle Bewohner. Nina, die Hotelbesitzerin, und Sara, die den Laden führt, scheinen mehr über das Haus und das tragische Schicksal seiner Bewohner zu wissen als Elin selbst. Kein Wunder, wenn die Hotelbesitzerin mit dem Bankangestellten verheiratet ist, der das Konto von Elins Mutter betreute. Sie und andere Erwachsene schwiegen damals, um Elin die Kindheit zu erhalten. Einzig Ola, enger Freund ihres Bruders Vegard, schien damals Zugang zu ihr und ihrer Trauer finden können. Er und Sara werden zu Elins Ersatzfamilie, während ihre Mutter als Stewardess arbeitet. Ola veröffentlicht mit 25 sein erstes Buch und scheint seitdem den Absprung aus dem Dorf geschafft zu haben. Um seine kleine Tochter kümmert er sich zuverlässig, auch wenn er mit der Mutter des Kindes nicht zusammenlebt. Je tiefer Elin in die Geschichte des Hauses und ihrer Familie eindringt, umso öfter muss sie ihr Urteil über andere Menschen revidieren, nicht nur über Sara, die ihr gegenüber stets reserviert schien. Ein geerbtes Elternhaus, in dem ein Geheimnis vermutet wird, klingt nach Romanklischee. Elin jedoch stößt tatsächlich auf rätselhafte Ereignisse kurz vor dem Tod ihres Vaters. Sie erfährt, dass ihre Eltern in den 80ern das Haus am Fjord schätzen ließen und sich zur gleichen Zeit für einen Landsitz in Frankreich interessierten. Vater Björn hatte zwar in Paris Bergbau studiert und die Familie war reiselustig – dennoch kann Elin kaum glauben, dass ihre Eltern offenbar unbemerkt ein neues Leben planten. Beunruhigt ist sie auch bei einem Blick in den Terminkalender ihres Vaters aus dem Jahr des Erdrutsches. Die Frage, wer die Fotos aus Björns Studentenzeit aufnahm, führt Elin schließlich auf die entscheidende Spur - und zu dem mysteriösen Landsitz in Frankreich. Kristin Valla, deren Erstling Muskat schon 2000 erschien, legt eine berührende wie melancholische Familiengeschichte vor, in der es um Freundschaft, Fürsorge, Bescheidenheit und Pflichtgefühl geht, kurz um Menschen „die ihre Sehnsüchte woanders ausleben“. Die Geschichte spielt auf verschiedenen Zeitebenen 1961, 1985, 2007/2008 und in der Gegenwart. Pflichtbewusstsein sehe ich seit dieser Lektüre viel kritischer; denn in Elins Heimat bedeutete es auch sozialen Druck, kein Glück für sich beanspruchen zu dürfen.