Bris Buchstoff
Goldener Käfig 1977 war das Jahr, in dem in BRD das sogenannte „Gleichberechtigungsgesetz“ ein weiteres Mal seit seiner Erlassung verändert wurde. Seit dieser Änderung dürfen Ehemänner das Dienstverhältnis ihrer Ehefrauen nicht mehr (fristlos) kündigen. Ein Umstand, der vielen Menschen heutzutage nicht mehr klar sein dürfte und gleichzeitig aufzeigt, wie lange und wie sehr gesellschaftlich verankert das Prinzip Patriarchat doch ist. Arbeiten durften Frauen also nur so lange, wenn es dadurch nicht zu einer Beeinträchtigung ihrer sogenannten Ehe- und Familienpflichten kam. Solche Pflichten schienen Männern hingegen nicht auferlegt worden zu sein. Diesen Gedanken hatte ich beider Lektüre von Daniela Dröschers neuem Roman Lügen über meine Mutter ständig. Dass sie die Beziehung ihrer Eltern ganz genau unter die Lupe genommen hat und sich prinzipiell sehr für gesellschaftliche Themen stark macht, liegt vielleicht auch an ihrem Geburtsjahr: 1977. Daniela Dröschers Familie besitzt, wie so viele deutsche Famiilen, eines im Überfluss: Geheimnisse. Ihre Großeltern mütterlicherseits stammen aus Schlesien und sind scheinbar nicht unvermögend, woher das Vermögen stammt, weiß Daniela, die als 6 jährige Erzählerin durch die Jahre 1983 bis 1986 führt, nicht. Was sie weiß ist, dass die Großeltern mit ihrem Vater und dessen Eltern nicht gut auskommen. Und was ganz klar ist: Danielas Mutter ist zu dick. Das ist ein Dreh- und Angelpunkt und ein für die Autorin schwierig zu beschreiben. Denn sie ist ihrer Mutter sehr nah – das spürt man durch das ganze Buch hindurch. "Ein letztes Mal zögere ich. Wie kann ich über meine Mutter schreiben, ohne den Blick meines Vaters auf sie zu wiederholen? „Fang einfach an“, sagt meine Mutter mit einem Mal leise. „Los. Du schaffst das.“ „Was?“ frage ich. „Na, deine Geschichte so zu erzählen, dass ich geschützt bin.“ „Wodurch geschützt? Was meinst Du?“ „Na wodurch schon?“ Sie lächelt. „Durch dich natürlich.“ " Danielas Mutter arbeitet viel, sie ist klug, bildet sich weiter, weil es ihr Spaß macht. Sie ist gut im Job und hält das Familienleben am laufen. Der Vater ist der erste der eigenen Familie, der dem Leben als Bauer den Rücken gekehrt hat und hofft immer wieder darauf, Karriere zu machen. Rückschläge verkraftet er schwer, wenn eine Entscheidung bezüglich Beförderung oder Gehaltserhöhung ansteht, verfällen Daniela und ihre Mutter in so etwas wie eine Duldungsstarre. Sie versuchen, die Stimmung, die der Vater mit nach Hause bringt, zu erahnen und verhalten sich ausgleichend bis tröstend. Die Außenwirkung, die er erzielt, scheint dem Vater über allem zu stehen und wenn etwas nicht klappt, dann ist klar, es liegt daran, dass er keine „vorzeigbare Frau“ hat. Der Roman beginnt mit dem, was man Danielas Mutter während der ganzen Lektüre immer wieder wünscht: einer Flucht. Sie packt ihr Kind, zu diesem Zeitpunkt ist es nur eines, und fährt zu ihren Eltern. Doch leider kommen sie nicht weit. Der Tank des Käfers ist leer gefahren, sie hat nicht genügend Geld dabei, doch schafft sie es, den Tankstellenwart zu überreden, ihr den Kanister dennoch mitzugeben und verspricht ihm das Geld gleich am nächsten Tag, natürlich mit einem Dankeschön, vorbeizubringen. Die Wirkung, die sie auf den Tankstellenwart hat, scheint eine andere zu sein, als die auf ihren eigenen Mann. Die Flucht ist zu Ende, die Vergesslichkeit wird zu einer weiterer Möglichkeit der Demütigung für den Vater ihr gegenüber. Im Laufe der Geschichte wird klar, diese beiden Menschen hätten nie heiraten sollen. Sie passen einfach nicht zueinander. Mehr noch, der Vater scheint die Ehe nie gewollt zu haben. Ein weiteres Geheimnis, das Daniela lüften will. Ebenso wie diese Sache mit dem Geld. Während der Vater seine Frau als maßlos bezeichnet was Essen und Geld angeht, wirft er selbiges für unnötige Umbauarbeiten am Haus hinaus. Es ist ganz klar, er strebt nach Höherem, scheint aber nicht dazu fähig. Zwischen den Romankapiteln hat Dröscher immer wieder Stücke gepackt, die uns vormachen, sie wären nicht fiktiv. Vielleicht ist das so, vielleicht auch nicht, Tatsache ist, sie den Kern der Geschehnisse noch klarer. Ein bisschen so wie bei Michael Chabon in Moonglow, hatte ich bei Dröscher auch das Gefühl, dass die Geschichte, die sie erzählt, genauso und doch ganz anders passiert ist. Der Kern, die ständige Kontrolle des Gewichts der Mutter durch den Vater als ob ihm selbst irgendetwas besser gelänge, würde seine Frau nur abnehmen, stellt einerseits absolut drastisch, andererseits sehr subtil dar, wie grausam Beziehungen sein können. Vor allem wenn sie in einem Ungleichgewicht der Beteiligten existieren, das völlig schief und einseitig durch reine Machtausübung desjenigen, der gesellschaftlich vermeintlich mehr leistet gekennzeichnet ist. Tatsächlich mehr geleistet hat auf jeden Fall Danielas Mutter. Dröschers Roman ist vielschichtig, blättert die unterschiedlichen Problemebenen klar auf ohne dröge oder schwer zu sein. Die Unsicherheit des Kindes, das naturgemäß auch die Seite des Vaters verstehen will, setzt sie die Einsicht der Erwachsenen entgegen, und tut das, was sie als Kind zwar schon ansatzweise tun wollte, aber nicht vermochte: Sie erzählt die wahre Geschichte ihrer Mutter, die das Leben und das Glück der Menschen, die ihr nahe waren über ihr eigenes gestellt hat und letztendlich ihr eigenes ebenso wichtig fand. "Es braucht so vieles in dieser Welt. Entschlossenheit, Mut, Rebellion. Aber es braucht auch eine Million solcher Herzen. Die nicht versteinern, die wach und warm und offen bleiben, ganz gleich, welche Narben die Welt ihnen zufügt. "