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Buchdoktor

Posted on 13.9.2022

Meret arbeitet in den 60er/70er Jahren des vorigen Jahrhunderts als Krankenschwester; sie identifiziert sich mit ihrem Beruf. Es ist die späte Epoche der Halbgötter in Weiß und in Merets Klinik wird erwartet, dass Frauen sich zwischen Pflegedienst und weltlichem Leben entscheiden. Eine Schwester die heiratet, verlässt die Kranken „für die Männer“. Mit Mitte 20 wohnt Meret in einem Zweibettzimmer des Wohnheims, Schlangestehen vor den Gemeinschaftstoiletten ist üblich. Merets sorgfältige Arbeitsweise fällt einem Arzt auf, der durch eine neue Operationsmethode Patienten von auffälligem Verhalten, z. B. Aggressionen zu heilen verspricht. Die junge Schwester wird von ihm dafür angelernt, seine Patientinnen persönlich zu betreuen, besonders während der Operation, die bei vollem Bewusstsein durchgeführt wird. Zunächst will Meret an die Wirksamkeit der OPs glauben, u. a. durch kritische Fragen ihrer Mitbewohnerin Sarah kommen ihr zunehmend Zweifel. Meret ist vermutlich eine so zugewohnte Pflegekraft, weil auch ihre jüngere Schwester sehr temperamentvoll war und selbst vom gewalttätigen Vater und einer strengen Hausordnung für die Familie nicht zu bremsen. Spätestens hier fällt auf, dass Merets Chef nicht aggressive Patienten (m/w) operiert, sondern allein Frauen, damit sie anderen nicht zur Last fallen. Unverhohlen wird auch Homosexualität als Verhalten genannt, das auszulöschen wäre. Da Meret und Sarah lange Zeit in gegenläufigen Schichten arbeiteten und sich praktisch nicht trafen, war ich überrascht von der zarten Liebe, die sich zwischen den Frauen entspann. Als Marianne Ellerbach, verhaltensauffällige Tochter aus wohlhabendem Hause, nach einer misslungenen Operation ins Wachkoma fällt, muss Meret ihre positive Sicht auf das angeblich erfolgreiche „Anpassen und Auslöschen“ revidieren. Meret erzählt aus der Ichperspektive rückblickend von der Zeit mit Mitte 20, als sie glaubte „die Welt verstanden zu haben“. Ihr Focus wechselt zwischen der Patientin Marianne, Merets jüngerer Schwester und ihrer Geliebten Sarah. Die Verknüpfung dieser Frauenfiguren hat mich sehr berührt. Probleme hatte ich allerdings damit, dass die Handlung zeitlich und örtlich nicht exakt zu verorten ist. Am Übergang der 60er/70er Jahre war es in Deutschland z. B. noch üblich, Patienten ihre Diagnose vorzuenthalten und höchstens mit den Angehörigen darüber zu sprechen. Warum Marianne im Gespräch wie ein Kind behandelt wird, hat sich mir nicht erschlossen, weil Diagnose und evtl. geistige Behinderung nicht genannt werden. Da die Lobotomie in der ursprünglichen Form seit den 70ern in Deutschland nicht mehr angewendet wird, wirkte Merets Arbeitsplatz auf mich wie aus der Zeit gefallen, eine letzte Bastion, die sich dem Stand der Psychiatrie verweigert. Die Ruhigstellung verhaltensauffälliger Frauen durch Lobotomie war stets umstritten. Dass es sich hauptsächlich um Frauen (aus wohlhabenden Familien) handelte, ist mir wieder bewusst geworden, seit kürzlich die Geschichte der leicht geistig behinderten Rosemary Kennedy (1918 -2005) unter neuen Gesichtspunkten betrachtet wurde. Das „Löschen“ von Verhaltensauffälligkeiten, die ohne strenge ethische Standards jeweils nach Normen der gerade Herrschenden umgedeutet werden könnten. Ist ein wichtiges Thema. Mir hat jedoch das Vereinfachen und Verkindlichen der Vorgänge durch eine Icherzählerin nicht gefallen, die im Beruf präzise Abläufe und Bezeichnungen gewöhnt sein müsste.

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