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seeker7

Posted on 12.9.2022

Mein Titelvorschlag wäre gewesen: „Warum das mit dem grünen Wachstum nicht funktionieren kann.“ Aber egal: Dieses Buch hat es in sich und es berührt eine äußerst brisante und absolut zentrale Zukunftsfrage: Stimmt die Geschichte (modern: „das Narrativ“) von dem anpassungsfähigen Kapitalismus, in dem sich – auf der Basis grüner Energiegewinnung und zukünftiger Innovationen – Wirtschaftswachstum von CO2- und Ressourcenverbrauch entkoppeln lässt und sich so gleichzeitig sowohl Nachhaltigkeit als auch Wohlstandsvermehrung erreichen lassen. Können wir uns also (nach der Bewältigung der Folgen des Ukraine-Krieges) einigermaßen entspannt auf die versprochene Transformation („Dekarbonisierung“) unserer Wirtschafts- und Lebensweise einstellen, ohne schwerwiegende Einschränkungen verkraften zu müssen? Die Antwort von Ulrike HERRMANN lautet: „Nein!“ Der Weg zu dieser Antwort will erarbeitet sein. Die Autorin (eine bekannte taz-Redakteurin) bietet in ihrem Buch gleich mehrere Lektionen kompaktes Wissen. Sie hat sich offenbar vorgenommen, ihre Leser/innen in die Lage zu versetzen, ihrer Argumentation inhaltlich zu folgen. Dafür scheut sie nicht davor zurück, erstmal den Kapitalismus zu erklären. Nein, das ist nicht polemisch gemeint: Sie tut es wirklich! HERRMANN erklärt, wie es losging, damals in England. Wie das war, mit den ersten Maschinen in der Textilindustrie. Warum es dort und nicht woanders passierte. Warum Kredite zu Geldvermehrung und Wachstum führen. Welche Rolle die Kolonien und der Sklavenhandel spielten (eine erstaunlich geringe). Welche Fortschritte und Wohltaten das kapitalistische Wirtschaften den Menschen gebracht hat. Usw. Am Ende dieser Lerneinheit steht fest: Kapitalismus geht nur mit (Wirtschafts-)Wachstum – eine Regel ohne Ausnahme! Der zweite Themenblock ist dem Ziel der aktuellen Zukunftspolitik gewidmet: Wie sähe ein nachhaltiges Wirtschaften aus? Was ist mit „grünem Wachstum“ gemeint? Auf welchen Annahmen und Voraussetzungen baut es auf? Und vor allem: Sind diese überhaupt realistisch? Auch hier bringt HERRMANN jede Menge Informationen ein, macht aber gleichzeitig (mit Zahlen hinterlegt) deutlich, dass sie die Kalkulationen, Erwartungen und Hoffnungen in hohem Maße für unrealistisch hält: Weder könne die für eine wachsende Wirtschaft notwendige (regenerative) Energie gewonnen, beschafft und verlässlich gespeichert werden, noch sei es möglich, die notwendigen Rohstoffe und sonstigen Ressourcen dauerhaft bereitzustellen. Den Hinweis auf die „zukünftigen Innovationen“ hält sie für unseriös: Es verbliebe – angesichts der galoppierenden Klimakrise – gar nicht die Zeit, neue Technologien zu entwickeln, zu erproben und dann flächendeckend einzuführen; zumal das alles wiederum mit enormen Ressourceneinsatz verbunden wäre. Nun könnte man vielleicht befürchten, HERRMANN würde aufgrund ihrer Analysen dafür plädieren, den Traum von der Nachhaltigkeits-Wirtschaft zu begraben – und stattdessen mit fossiler und Atom-Energie weiterzumachen. So könnte dann wenigstens der Kapitalismus und sein Wachstum gerettet werden. Weit gefehlt! Die Autorin hält ein radikales Schrumpfen unserer Wirtschaft für die einzige(!) Möglichkeit, einer Klima-Katastrophe zu entgehen. Und zwangsläufig wäre mit dieser – ökologisch alternativlosen – Entscheidung der (auf Wachstum angewiesene) Kapitalismus obsolet. Im letzten Teil des Buches unternimmt HERRMANN einen wahrlich wagemutigen Versuch: Zunächst konstatiert sie, dass es noch keine wirtschaftswissenschaftliche Idee dazu gibt, wie ein Übergang in eine Schrumpf-Wirtschaft („Post-Wachstums-Wirtschaft“) ohne katastrophale Verwerfungen gestaltet werden könnte. Dann traut sie sich aus der Deckung und stellt ein historisches Eingreifen des Staates als eine (grobes) Modell dar: Die englische Kriegswirtschaft im zweiten Weltkrieg. Als zeitgemäße Nachfolgerin präsentiert sie das Konzept einer „Überlebenswirtschaft“, in der es zwar eine gesicherte (und gerechte) Grundversorgung für alle, aber (natürlich) keinen Flugverkehr, kaum noch private Autos und sehr viel weniger Fleisch auf den Tellern – dafür eine Kreislaufwirtschaft und eine „Sharing Economy“ (man teilt sich den Besitz vieler Güter) geben würde. Das Leben wäre nicht schlechter, aber bescheidener (insbesondere für die vorher privilegierten Menschen, die sich einen besonders großen CO2-Fußabdruck geleistet hatten). Um deutlich zu machen, dass damit keine Rückkehr in Steinzeit-Höhlen verbunden wäre, stellt sie in Aussicht, dass man sich vielleicht etwa auf einem Wohlstandniveau des Jahres 1978 einpegeln könnte. Ein echter Hammer! Man könnte jetzt einwenden, dass man sich mit solchen Szenarien aus jeder ernsthaften Diskussion verabschieden würde. Man kann den shit-storm schon förmlich brausen hören. Man könnte ins Feld führen, dass man mit solchen Provokationen die wachsende Akzeptanz bzgl. des Transformationsprozesses eher gefährden könnte („Dann lieber alles so lassen, wie es ist“). Man kann aber auch ganz anders argumentieren und bewerten: Ist es nicht dringend notwendig, dass endlich mal (auch in einer breiten Öffentlichkeit) mit einer angemessenen Radikalität die These in Frage gestellt wird, dass wir unsere ökologische Irrfahrt ohne Einschränkung und Verzicht stoppen könnten? Niemand wird davon ausgehen, dass hier eine Blaupause für die konkrete Realpolitik des nächsten Jahrzehnts vorgelegt wurde. Keiner wird sich wundern, dass die Auswirkungen für Renten und Sozialsysteme genauso wenig durchgerechnet wurden wie die internationalen Folgewirkungen. Aber ist es möglicherweise nicht viel „verrückter“, an untauglichen Konzepten und toxischen Ritualen festzuhalten, nur weil man sich einfach nicht traut, in Alternativen zu denken? Wäre eine solidarische und nachhaltige „Überlebenswirtschaft“ tatsächlich schlimmer als ein ökologisches Desaster, das dann unvermeidlich zu einem ungesteuerten wirtschaftlichen Zusammenbruch führen würde? Ulrike HERRMANN gebührt Anerkennung dafür, dass sie dieses informative und provokante Buch in den Ring geworfen hat – wohl wissend, dass man sich genussvoll auf sie stürzen wird. Vielleicht wird damit eine Diskussion angestoßen, die bisherige Denkverbote zumindest lockert.

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