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Buchdoktor

Posted on 12.9.2022

Luise ist Meeresbiologin und forscht in Kiel über Ctenophora, die Meerwalnuss, eine leuchtende Rippenquallen-Art. Die Qualle wird in Ballastwassertanks von Schiffen eingeschleppt und vermehrt sich als Nutznießerin des Klimawandels explosionsartig, weil sie in ihren neuen Revieren keine natürlichen Feinde hat. Rein wissenschaftlich handelt es sich um eine invasive Art, die den heimischen Fischbestand bedroht und das Ökosystem Meer an den Rand des Kollapses gebracht hat. Luise ist allerdings der Meinung, dass eine Tierart nicht invasiv sein kann, die passiv transportiert wird und nicht aktiv einwandert. Luise sind offensichtlich Sachthemen wichtiger als Menschen. Die Qualle ist ihr Lebensinhalt; ihren wissenschaftlichen Ruf hat sie sich unter persönlichen Entbehrungen erarbeitet. Aktuell scheint die Wissenschaftlerin mit ihrem Thema nicht weiterzukommen. Die Leuchtqualle entzieht sich ihrer Erforschung, so dass u. a. noch unbekannt ist, wie sie sich vermehrt. Luise hält zwar Präsentation über Präsentation, aber bisher ist nichts gegen die Invasoren unternommen worden. Vom Institutsleiter wird Luise ermahnt, bei ihrem anstehenden Besuch im Grazer Tierpark „das Ganze“ im Auge zu behalten und sich nicht nur für ihr eigenes Forschungsthema zu interessieren. Selbst an eine schwierige Person wie Luise gerichtet, wirkt diese Kritik kränkend; männliche Kollegen würden in vergleichbarer Situation als zielstrebig anerkannt. In Graz ist Luise aufgewachsen. Ihre Bewunderung für den charismatischen Tierpark-Direktor Schilling hat sicher ihre Berufswahl beeinflusst. Bis heute lebt ihr Vater in der Stadt, mit der sie traumatische Erinnerungen verbindet. Die Begegnung mit ihm verrät, dass hinter Luises Schroffheit und ihrem Einzelgängertum mehr stecken muss, als ich mir zunächst vorstellen konnte. So wie der Sand an einem Meeressaum mit jeder Welle andere Farbtöne zeigt, wechseln sich im Rückblick Facetten aus Luises Vergangenheit ab. Ihre Distanz zum Vater, das vom dominanten Großvater vorgegebene Frauenbild und ihre Essstörung als Jugendliche lassen Luises berufliche Krise in anderem Licht erscheinen. Stets mit hohen Ansprüchen an sich und andere, steht sie nun in Graz kurz vor dem Zusammenbruch. Marie Gamillscheg verknüpft die Figur einer schwierigen, unnahbaren Wissenschaftlerin mit ihrem Forschungsgegenstand, dem Zustand unserer Meere durch den Klimawandel. Die Schlangengrube Forschung wirkt wie ein Katalysator für Luises persönliche Krise. Der sprachlich herausragende Roman steht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2022. Verdient, finde ich.

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