Buchdoktor
Die bekannte Tech-Ikone Bix Bouton ist Schwarz, hat mit seiner Frau Lizzie 4 Kinder und steht seit seiner Studienzeit noch immer im Austausch mit Miranda Klein. Miranda als Anthropologin hat das Fundament für „Mandala“ gelegt, Bix‘ revolutionäres Projekt der Post-Social-Media-Epoche zur Speicherung persönlicher Erinnerungen. Mandala gibt den Möglichkeiten Sozialer Medien praktisch eine dritte Dimension, in der Erinnerungen per App in eine Cloud hochgeladen, gesichert und der Welt zugänglich gemacht werden können. Natürlich können die Inhalte getrennt, optimiert und neu kombiniert werden, eine komplette Neuerschaffung des Individual- und Kollektiv-Bewusstseins. Ausgerechnet Miranda hätte aus ihrer damaligen Clique niemand zugetraut, dass sie einmal die Theorie für ein fragwürdiges Projekt liefern könnte, das Bix reich und berühmt machen würde. Wie Bix sich in der Szene weißer Akademiker inszeniert und behauptet hat, wäre vermutlich einen eigenen Roman wert. Mirandas und Lous Töchter Lana und Melora hatten als Kinder keine Ahnung, warum Lou als Musikproduzent zig goldene Schallplatten an der Wand hängen hatte. Für sie war er der erfahrene Vater (mit mindestens 6 Kindern aus 2 Beziehungen), der sich um sie kümmerte, als Miranda ohne ein Wort zu Forschungen in irgendeinem Urwald verschwand. Das ewige Rätsel: wo lernen Väter, ihren Töchtern Zöpfe zu flechten? Miranda sammelte damals die Daten, die die Basis für Bix‘ heutiges Projekt lieferten und entwickelte den Algorithmus, der Verhalten voraussagen kann. Mit Mandala können Egans Leser in die Vergangenheit der Figuren einsteigen und erfahren, was diverse Ich- und Wir-Erzähler in der Realität lieber verdrängt und verschwiegen hätten. In einer atemberaubend üppigen Besetzung schafft Jennifer Egan das Familientreffen einer Generation, die heute Mitte 50 ist, und einmal zusammen studiert hat. Es ist die Nachfolge-Generation von Eltern, die vor 20 Jahren nicht mehr flexibel genug war, sich die nahende Strukturkrise der Musikbranche auch nur auszumalen. Mit Brix‘ Mandala und Chris Salazars Konkurrenzprodukt Mondrian wären sie sicherlich überfordert. Wie beim realen Familientreffen werden Lebensbilanzen gezogen und man laviert mit Schuldgefühlen wegen nie ausgesprochener Fehler der Vergangenheit. Ideale Gelegenheit, um beim Erzählen Umbrüche im Leben zu verarbeiten, Trennung, Altern, Krankheit, Süchte. Aber auch eigene Glücksvorstellungen (der klassischen amerikanischen Familie) auf den Prüfstand zu stellen und loszulassen, was man glaubte, unbedingt haben und erreichen zu müssen. Hochinteressant fand ich, wie ich als Leserin hier die Elterngeneration verstehen lernte, indem ich ihren Kindern zuhörte und die Familienähnlichkeit wahrnahm. Am Ende taucht das Baby aus dem ersten Kapitel im Studentenalter wieder auf – ein genialer Plot. „Candy Haus“ liest sich als eine Art Geschwister zu „Der größere Teil der Welt“. Den Vorgänger (2010) muss man nicht gelesen haben, Candy Haus weckt allerdings Interesse, es nachzuholen. Nicht nur wegen der zahlreichen Personen und der Fortschreibung in die nahe Zukunft legt Egan einen komplexen Epochen-Roman vor, sondern auch, weil die Autorin nie alles preisgibt. Zu Beginn jedes Kapitels muss zunächst gerätselt werden, wer hier gerade die Erzähler-Rolle einnimmt – und am Ende wissen wir manches, aber längst nicht alles über die Boutons, Salazars, Hollanders und ihre Nachkommen …