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stricki

Posted on 6.9.2022

Kein Entkommen! Kann man sich selbst neu erfinden? Ist genau dies Édouard Louis gelungen? Bis zu einem gewissen Prozentsatz ja, würde ich denken. Aber das, was uns als Kind geprägt hat, bleibt bestehen, das lässt sich nicht ausreißen wie ein lästiges borstiges Haar. Édouard Louis lässt seine Lesenden teilhaben an seinem Prozess. Seiner Verzweiflung, der Ablehnung und dem Hass die ihm als Homosexuellen in einem rassistischen und homophoben Umfeld permanent entgegen schlugen. Der Arroganz der sogenannten besseren Kreise, deren Hobbys er nie teilte. Teilen konnte! Deren Reisen er nie machen konnte, als Kind vom Land das in bitterer Armut aufwuchs, ohne Geld für den Zahnarzt. Der Weltgewandtheit, mit der er einfach nicht aufgewachsen ist. Seine Intelligenz ist seine Rettung, sein Ehrgeiz und sein unerschütterlicher Willen, etwas, sich zu verändern. Immer begleitet vom Zweifel. Von Ambivalenz. Was, wenn er sich nicht selbst entkommen kann? Er flüchtet vor seinem Elternhaus, dem kleinen Dorf. Dann aus der Stadt, in der er Abitur machte und wundervolle Freunde fand, die ihn unterstützten. Er zieht nach Paris, wird dank unglaublicher Anstrengungen an einer Elite-Uni angenommen, an der er wieder von vorne anfangen muss. Er weiß, dass er dies alles nur dank seiner betuchten Freunde geschafft hat. Menschen, die sich seiner angenommen und ihm geholfen haben. Seine verzweifelten Bemühungen kosten ihn Freundschaften, er leidet unter den Trennungen, er schämt sich für sein Verhalten, und kann es doch nicht ändern. Er ist ein Getriebener. Es ist ein eher leises Buch, das sich angenehm lesen lässt. Ich mochte auch die persönlichen Fotos, die die Geschichte begleiten. Ich hatte mir noch etwas mehr Erkenntnisse erhofft. Ich hatte mit mehr Drama gerechnet. Aber vielleicht ist es so wie es ist genau richtig. Ich konnte mich gut mit Édouard identifizieren, ich weiß genau, was er meint. Es ist eine Krux, wie einen Bildung vom Elternhaus entfernen kann - aber manchmal gibt es keinen anderen Weg. Ein schönes Buch. Mich würde sehr interessieren, wie Louis mit 50 Jahren auf seine Geschichte zurückblickt.

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