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letterrausch

Posted on 6.9.2022

Ein Buch dick wie ein Backstein, nominiert sowohl für den Booker Prize 2021 als auch für den Women’s Prize for Fiction 2022. Ein Roman, der mehrere Jahrzehnte und Kontinente umspannt und auf zwei Zeitebenen voranschreitet: Das ist Maggie Shipsteads aktueller Roman „Kreiseziehen“, im Original „Great Circle“. 800 Seiten lässt sich die Autorin Zeit, um ihre Geschichte zu entwickeln. Zunächst stellt sie uns die beiden Protagonistinnen ihres episch angelegten Romans vor. Da wäre auf der einen Seite Marian Graves, die mit ihrem Zwillingsbruder Jamie während der Prohibition in Missoula aufwächst. Für Marian ist schon seit frühester Jugend klar: Sie will Pilotin werden. Als zwei Kunstflieger die nahegelegene Stadt besuchen, verfestigt sich dieser Wunsch zu einer Obsession. Um sich das Geld für die Flugstunden zu verdienen, arbeitet sie in der örtlichen Bibliothek und fährt für einen Schwarzbrenner Alkohol aus. Als sie das Bordell beliefert, ereignet sich ein schicksalhafter Zusammenstoß mit einem Mann, der sofort von ihr fasziniert und besessen ist. Er will sie für sich gewinnen, sie will fliegen – irgendwie treffen sie sich in der Mitte, irgendwie aber eben auch nicht. Und dann gibt es auf der zweiten Zeitebene Hadley, ein Hollywood-Sternchen à la Kirsten Stewart oder Jennifer Lawrence. Von Kindesbeiden an hat Hadley vor der Kamera gestanden, der Durchbruch gelang ihr mit einem Endlos-Fantasy-Franchise. Als sie durch sinnlose Bettgeschichten allerdings aus den Filmen gefeuert wird, bietet sich ihr die Gelegenheit, Marian in einem geplanten Biopic darzustellen. Der Film soll Marian Graves’ Leben erzählen, die bei dem Versuch, die Welt auf der Längsachse mit ihrem Flugzeug zu umrunden, in den 50er Jahren verschollen ist. Hadley und Marian haben einiges gemeinsam: Beide sind als Kleinkinder verwaist, beide sind bei einem Onkel aufgewachsen, der sich nur bedingt für Kinder begeistern kann. Und so findet Hadley reichlich Anknüpfungspunkte für ihre Rolle, muss aber auch Momente erleben, in denen sie sich an ihrer eigenen Geschichte abarbeiten muss. Shipstead will ein Epos präsentieren; jede Seite des Romans atmet die intensive Recherche der Autorin und ihr Bemühen, ein so vollständiges Bild ihrer Charaktere zu zeichnen, dass man sie für reale Personen hält. Hadley und Marian sind zwar der Fokus der Geschichte, doch genießt Shipstead offenbar auch die Gelegenheit, Marians Bruder näher zu betrachten, den Bau des Schiffes zu verfolgen, auf dem Marian und Jamie zu Waisen werden oder dem Leser einen kurzen Abriss über die Anfänge des Fliegens zu präsentieren. Das heißt: Wer es mag, wenn ein Buch panoramisch ist, viel abdeckt und dabei in allen Farben schillert, ist hier richtig. Marians Lebensgeschichte ist spannend und wendungsreich, deckt dabei eine faszinierende Zeit ab (die Prohibition und später den Zweiten Weltkrieg) und umspannt fast den gesamten Globus. Hadley kommt dabei durchgehend zu kurz. Im Gegensatz zu der Tiefe, die Marians Lebensgeschichte entwickelt, dümpelt Hadley über weite Strecken an der Oberfläche, was sicherlich auch daran liegt (Achtung: Vorurteil!), dass man als Hollywood-Star kaum mit der Notwendigkeit konfrontiert ist, Tiefe zu entwickeln. Hadley ist blass und oberflächlich. Ihr Lebenszweck scheint darin zu bestehen, ihren Fans zu entwischen und gleichzeitig mit sämtlichen Männern in ihrem Dunstkreis in die Kissen zu springen. Der Berührungspunkt – der Film über Marian – ist bis fast zum Schluss nur Staffage. Erst gegen Ende fangen die beiden Zeitebenen an, miteinander zu interagieren. Dabei böte die Idee der Verfilmung im Kontrast zur Erzählung der Lebensgeschichte viele Spannungsmomente: Wie lief Marians Leben ab, was macht Hollywood daraus? Welche Konflikte werden glattgebügelt oder komplett unter den Tisch gekehrt? Diesen interessanten Diskurs über das Verhältnis von Realität und Fiktion lässt sich Shipstead fast komplett entgehen, dadurch wirkt Hadleys Erzählstrang leider meist überflüssig und nutzlos. Shipstead will viel und ist dabei auch oft erfolgreich. Der Roman hat Schwächen, aber trotz des Umfangs keine Längen. Diskutiert werden hier feministische Themen wie Selbstermächtigung, wirtschaftliche Abhängigkeiten, aber interessanterweise zum Beispiel auch, welche „Chancen“ der Zweite Weltkrieg anderen Lebensmodellen bot – eben zum Beispiel fliegenden Frauen oder homosexuellen Männern. Solch einen Fokus habe ich in einer Geschichte über den Zweiten Weltkrieg bisher noch nirgends entdeckt. Bleibt zusammenfassend zu sagen: Es macht einfach Spaß, sich auf den vielen Seiten des Romans in Marians Leben zu verlieren. Es ist voller Abenteuer, voller Höhen und Tiefen. Und noch dazu nimmt die Handlung auf den letzten einhundert Seiten – als Marian ihre Weltumrundung in Angriff nimmt – eine solche Rasanz auf, dass man das Buch kaum zur Seite legen mag. Ohne zu spoilern kann man zumindest sagen, dass Shipstead ein extrem starker Schluss gelungen ist, der faszinierend und überraschend und auch befriedigend ist. Gleichzeitig schließt sie damit den Kreis zum Anfang des Romans, in dem es um das Verschwinden von Menschen ging. Wahrlich, ein „Great Circle“!

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