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Wenn man als Studierender das Kommunikationsmodell des Autors sozusagen als Muttermilch aufgesogen und in späteren Jahrzehnten unzählige Male angewandt hat, begegnet man seinem Alterswerk „Erfülltes Leben“ mit großer Neugier und einigem Respekt. Dass diese Publikation beides verdient hat, steht nach dem Lesen außer Zweifel. SCHULZ von THUN steht auf dem Boden der Humanistischen Psychologie und hat die deutsche Kommunikationspsychologie insbesondere dadurch geprägt, dass er eingängige Modelle und Bilder (mit)geschaffen hat, die sich sowohl in der Ausbildung und Lehre, als auch in der praktischen Arbeit (in Coaching, Beratung und Therapie) inzwischen millionenfach bewährt haben. Er ist weit eher ein begnadeter Lehrer bzw. Didaktiker als ein Forscher, der seine Theorien durch ausgefeilte Versuchsanordnungen zu verfeinern sucht. Dass er sicherlich auch ein Talent zur erfolgreichen Selbstvermarktung einiger (weniger) Grundkonzepte hat, steht der Würdigung seines Einflusses nicht entgegen. Am (vorläufigen?) Ende seines Schaffens (er veröffentlichte sein Buch mit 77 Jahren) stellt sich die im Buchtitel aufgeworfene Frage sicher nicht zufällig: Wann sonst wäre die Zeit, bilanzierend auf das eigene Leben zurückzuschauen? Doch natürlich: Der Autor ist nicht irgendein beliebiger Privatmensch! Was läge also näher, sich der Frage der „Lebenserfüllung“ systematisch zu nähern? Wen würde es wundern, wenn auch bei dieser Analyse ein prägnantes Modell geboren würde? Wäre jemand überrascht, wenn es dem Autor gelänge, die wichtigsten Grundkonzepte seiner bisherigen Veröffentlichungen auch in diesem Buch unterzubringen? Nun – genau so hat er es gemacht! Der Autor stellt ein Fünf-Felder-Schema vor, in dem er verschiedene Facetten von Erfüllung gliedert und dann ausführlich darstellt. Es geht um die persönlichen Lebenswünsche, um einen (das eigene Selbst) überschreitenden Sinn, um die biografische Stimmigkeit, um den Bezug zu allgemeinen Daseins-Themen und einer Selbsterfüllung im Sinne eine „Auslebens“ der angelegten Potentiale. Innerhalb der Ausführungen kommen immer wieder die Konzepte des „Wertequadrats“ und des „Innere Teams“ ins Spiel, die beide darauf hinweisen, dass extreme und einseitige Ausprägungen bestimmter Neigungen, Ziele oder Verhaltensmuster einem erfüllten Leben eher im Wege stehen. Es ist also die Suche nach dem Abwägen, dem Integrieren, der Vielstimmigkeit, zu der uns SCHULZ von THUN motivieren möchte. Man könnte auch sagen: „Haltet euch von den Extrempolen fern!“ In dem Text lauern durchaus einige spannende (psychologisch-philosophische) Grundsatzfragen. So hinterfragt der Autor selbst das Konzept eines „inneren Wesenskerns“, das von humanistisch orientierten Coaches so gerne als Maßstab ins Feld geführt wird. Er löst auch dieses Spannungsfeld (zwischen dem angelegten „Kern“ und den äußeren Einflüssen) auf seine Art: Natürlich ist beides richtig! So räumt er ein, dass die oft behauptete „Selbstverfügbarkeit“ aller Optionen („jede/r kann alles schaffen“) eine haltlose These ist, bleibt aber natürlich dem Modell treu, dass ja nach und nach die „eigenen“ Selbstentfaltungskräfte an Einfluss gewinnen (ohne zu fragen, wieviel Verfügungsgewalt man denn auf diese wachsenden Kompetenzen wirklich hatte). Dass der Autor auch mit seiner persönlichen Lebensbilanz beschäftigt ist, wird nicht nur in der Einleitung deutlich. Er benutzt ganz offensiv biografische Erinnerungen zur Erläuterung bestimmter Thesen und schlägt seiner Leserschaft vor, sich in ähnlicher Weise mit der eigenen Lebensgeschichte zu befassen. Ganz nebenbei zeigt sich der Autor natürlich so auch als Modell für Authentizität. Mein erster Eindruck war: „Das ist ein seichtes Buch – hoffentlich wird es nicht allzu sentimental und selbstbeweihräuchernd!“ Am Ende komme ich zu einem anderen Urteil: Tatsächlich handelt es sich nicht um ein Sachbuch (im engeren Sinne) – auch wenn in systematischer Form Inhalte vermittelt und Literatur zitiert wird; dafür ist es zu persönlich und biografisch. Aber das Buch bietet deutlich mehr als eine selbstverliebte Lebensbilanz: Es ist eine weitere Bestätigung dafür, dass SCHULZ von THUN ein Händchen dafür hat, komplexe Zusammenhänge klug und nachvollziehbar zu strukturieren und in eingängiger Form zu veranschaulichen. In seiner Mischung zwischen lebenserfahrener Altersweisheit, psychologischer Expertise und philosophisch-existenziellen Betrachtungen hat der Autor auch so etwas wie eine gut lesbare „Lebensschule“ geschrieben. Ein kluges Buch, das nicht nur praktisch tätigen Fachleuten, sondern auch interessierten Laien Anregungen zur Selbstreflexion und vielleicht sogar Anstoß für Veränderungen geben könnte. Dass wohl nicht jede Aussage einer empirischen Bestätigung standhalten würde, dass die humanistische Grundhaltung sich in dem ein oder anderen Punkt in einer zu optimistischen Bewertung niederschlägt, kann in diesem Kontext mal übersehen werden.