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letterrausch

Posted on 29.8.2022

Es gibt Romane, da weiß man sofort, wie man die Rezension, die man dazu schreiben möchte, aufziehen wird: Der Einstieg drängt sich förmlich auf, geht über in eine stringente Argumentationskette darüber, ob der Roman funktioniert oder nicht, und am Schluss endet man mit einigen Sätzen, die das Ganze abrunden und zusammenfassen. Tja, und dann gibt es Romane wie Hernan Diaz’ „Treue“. Da ist man während der Lektüre absolut fasziniert und hingerissen und weiß doch: Diesem Buch kann man in einer Rezension nur schwer gerecht werden. Denn das Problem ist: Je man jemandem, der den Roman (noch) nicht gelesen hat, über „Treue“ erzählt, desto mehr nimmt man dieser Person eine einzigartige Leseerfahrung vorweg. Denn jeder Satz, der kurz umreißt, worum es auf der Handlungsebene geht, kann schon einer zu viel sein. Ich wusste nichts, abgesehen von der Tatsache, dass der Roman aus vier Teilen besteht, und das hat die Lektüre unbedingt bereichert! Trotzdem: Wenigstens ein bisschen muss man zur Handlung ja verraten. Nehmen wir also den Anfang, den ersten Teil: Wir befinden uns in den 1920er Jahren in New York. Protagonist ist Benjamin Rask, der das leidlich erfolgreiche Tabakunternehmen seiner Familie umwandelt und sich zu einem legendär erfolgreichen Börsenhai (so es diese Bezeichnung damals schon gab) wandelt. Weil das einfach dazu gehört, ehelicht er die junge Helen, die zwar einen guten Namen mitbringt, deren einflussreiche Familie jedoch finanziell auf dem absteigenden Ast ist. Im Verlauf folgen wir also sowohl Rasks unglaublichen Erfolgen an der Börse, seiner Einflussnahme auf die Wirtschaft des Landes als auch seiner Ehe. In manchen Rezensionen wird dieser erste Teil in die Nähe der Prosa von Edith Wharton gestellt, was für mich nur heißt, dass ich unbedingt und endlich einmal Edith Wharton lesen muss. Die Handlung fließt in schönen, wohlgeformten Sätzen dahin. Man hört gern zu, lässt sich gern mitnehmen. Doch warum „Treue“ auf der Longlist für den Booker Prize steht, erschließt sich hier noch nicht, denn die Prosa ist zwar angenehm, aber eben auch konventionell und erwartbar. Überraschend wird es erst in den folgenden Teilen – denn hier geht es plötzlich um gänzlich andere Figuren. Oder vielleicht doch nicht? „Treue“ entpuppt sich zunehmend als eine Matroschka, bei der sich immer wieder neue Puppen in der jeweils größeren verstecken. Motive und Momente der Handlung fangen an, sich zu wiederholen. Sie ändern sich, werden vom Autor praktisch „geremixt“, um ihnen einen neuen Dreh zu geben und dem Leser einen neuen Einblick in die Charaktere. Letztlich geht es dann nämlich nicht mehr um den Reiz des schnöden Mammons, um eine Erfolgsgeschichte in DER Metropole der westlichen Welt, sondern es geht um Fiktion und Realität und deren Verhältnis zueinander. Wie bauen wir uns unsere eigene Realität zusammen? Mit welchen Fiktionen schmücken wir sie aus oder machen sie für uns erträglich? Und wie lässt sich die darunter liegende Realität überhaupt bloßlegen? Hat sie für sich genommen einen Wert? Gibt es sie überhaupt? Ist am Ende vielleicht alles Fiktion? Diese Fragen habe ich mir während der Lektüre gestellt. Hernan Diaz hat in seinem Roman mit Denkanregungen, jedoch nicht mit definitiven Antworten reagiert. „Treue“ fühlt sich ein bisschen an wie „Inception“ für Leseratten, insofern als man mit jeder umgeschlagenen Seite tiefer in ein Narrativ eindringt, dass man aber doch nie vollkommen durchdringen kann. Wer an solchen literarischen Spielen Spaß hat, wird „Treue“ mögen. Wer lieber einer geradlinigen Handlung folgt, die zielstrebig auf einen Punkt zuläuft, der sollte zu einem anderen Buch greifen. Der Argon Verlag hat es sich nicht nehmen lassen, die vier Teile des Romans von jeweils passenden Sprechern einlesen zu lassen, nämlich von zwei Männern (Johann von Bülow und Stephan Schad) und zwei Frauen (Valery Tscheplanowa und Sabine Arnold). Manches eignet sich dabei besser für den Vortrag als anderes (alles, was in Richtung „Manuskript“ ging und dementsprechend unfertig war, ließ laut vorgelesen den gewissen Flow vermissen). Doch im Ganzen habe ich gern gelauscht und werde unbedingt die Augen offen halten, was Hernan Diaz in Zukunft veröffentlicht: „Treue“ ist erst sein zweiter Roman. Den Namen des Autors sollte man sich also merken!

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