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Inhalt: Als Lucas eines Morgens nach dem Aufwachen zum Handy greift und dieses nicht mehr funktioniert, gerät er in Panik. Der Laptop zeigt nur noch ein blinkendes Fragezeichen an. Beide Geräte sind, das wird Lucas schnell klar, von einem Virus befallen. Warum, das kann er sich erklären. Als Lucas Vater von den funktionsunfähigen Geräten erfährt, lässt er nicht lange mit sich handeln. Handy und Laptop soll sich sein Kollege Jérôme anschauen. Sébastien arbeitet in einer Computerfirma, dort hat man Ahnung. Das Problem wird vermutlich schnell gelöst sein. Durch das,was Sébastien jedoch kurze Zeit später erfährt, droht er vollends den Boden unter den Füßen zu verlieren. Jérôme zeigt ihm ein Foto seines Sohnes, das diesen vollkommen rasiert, mit Öl eingerieben abbildet. Ob Lucas Opfer eines Pädophilen geworden ist? Sébastien wird schnell von seinem Kollegen und langjährigem Freund beruhigt. Denn der zwar sorgfältig gelöschte, aber für Jérôme noch zugängliche Browserverlauf zeigt, dass Lucas alleine in einer Nacht über 140 Pornos angeschaut hat. Lucas ist pornosüchtig. Lucas Zensuren sind unterdessen immer schlechter geworden. Die Lehrer berichten davon, dass er mitten im Unterricht einschläft. Er isst ungesund und zu viel, hat stark zugenommen und interessiert sich kaum noch für seine Körperhygiene. Er hat keine Freunde, sitzt nur noch zu Hause in seinem Zimmer und schläft zu wenig. Ist all dies seiner Pornosucht geschuldet? Sébastien scheut das Gespräch mit dem Sohn. Aber es scheint wohl unvermeidbar. Meinung: Patrick Bard spricht mit seinem Roman, „Point of View – Wenn du nicht wegschauen kannst“, kein leichtes Thema an, soviel steht fest. Völlig unverblümt, offen und unverstellt nähert sie sich Themen, die für die meisten mit Tabus behaftet sind. Lucas ist pornosüchtig. Mit elf Jahren hat er sich illegal Filme und Serien auf den PC geladen und ist dabei durch ein Pop-Up auf seinen ersten Pornofilm aufmerksam geworden. Vielleicht war es die Neugierde, die ihn weitergeführt hat. Mit vierzehn Jahren zeigt er bereits signifikantes Suchtverhalten. Immer auf der Suche nach dem einen Mädchen mit dem bestimmten Merkmal, klickt er sich von einem Video zum nächsten. Er hat bereits tausende Pornos gesehen. Er kennt mittlerweile Praktiken, die er in seinem Alter nicht kennen sollte. Es gibt Filme zum Thema Cosplay, die ihn aktuell sehr beschäftigen. Da sieht man Wonder Woman, Vampire, Zombies oder Androide beim Akt. Es fallen Worte, die Lucas anfangs vielleicht noch nichts sagten. Also klickt er auf den Link. Das zentrale eskalierende Moment in seiner Sucht. Das Buch nimmt sich das Recht, dabei auf Triggerwarnungen zu verzichten. Hier fragte ich mich, ob die Altersempfehlung, ab 14 Jahren, angemessen ist. Denn natürlich ist man auch als Leser/in neugierig. Wie schnell ist so ein Wort gegoogelt? Jugendbücher sollen den Erfahrungshorizont der Gegenwart abbilden. Das tut Patrick Bard mit seinem Buch, das steht fest. Denn Lucas durchlebt seinen persönlichen Albtraum. Durch das Schauen von Pornofilmen findet er eine innere Sicherheit, eine Routine. Er kommt zur Ruhe. Ohne diese Filme findet er nicht mehr in den Schlaf. Ihm fehlt etwas. Er fühlt sich leer, einsam und unsicher. Der Autor stellt hier sehr gut dar, was eine Sucht bewirken kann. Daraus auszubrechen ist nicht einfach. Für Lucas ist das ein Ding der Unmöglichkeit. Lucas benötigt die Hilfe seiner Eltern. Doch die Mutter leidet unter Depressionen und findet kaum Kraft den eigenen Alltag zu bewältigen. Der Vater ist resolut, er kämpft sich für seine Familie durch den Alltag. Das zusätzliche Problem ist eine Last für Sébastien. Ein Gespräch mit dem Sohn ist für ihn keine einfache Sache. Stellenweise greift Patrick Bard die Perspektive von Lucas Vater auf, was hilft, sich auch in dessen Perspektive zu versetzen. Sicher macht Sébastien auch Fehler, doch diese bleiben für den Leser nachvollziehbar. Die Pornos prägen Lucas sexuelles Wissen, seine sexuelle Praxis und vor allem seine sexuelle Imagination. Sein erster Kontakt zu einem Mädchen verläuft nach dem game plan, den er durch die Videos vermittelt bekommen hat. Das mag auf den Leser schockierend und vielleicht auch kurzzeitig amüsant wirken. Lucas jedoch versteht die Welt nicht mehr. Er wird abgewiesen, ausgelacht und noch weiter ausgegrenzt. Und das ist vermutlich noch ein relativ harmloser Verlauf der Dinge, im Vergleich zu dem, was wohl passiert wäre, hätte das Mädchen, dem er ein Nacktfoto von sich schickt, dieses vielleicht noch im Internet geteilt. Patrick Bard erzählt aber nicht nur von Lucas Sucht und den Auswirkungen dieser auf sein gesamtes Leben. Der Autor setzt zu dem Zeitpunkt an, in dem Lucas Suchtverhalten von seinen Eltern entdeckt wird. Psychologisch akkurat wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt, wobei Zeitsprünge und Perspektivwechsel die Spannung erhöhen. Gelegentlich werden kurze Blicke in die Zukunft eingeworfen. Beispielsweise wie sich Sébastien vor einem Richter wiederfindet, der ihn damit konfrontiert, dass er nicht gleich einen Therapeuten aufgesucht hat. Das macht neugierig. Patrick Bard berichtet bis zu dem Zeitpunkt, als Lucas Sucht ein Ende findet. Und das in einem Buch, das lediglich 224 Seiten umfasst. Die Erzähl-Dynamik ist also hoch. Manchmal ging es mir persönlich aber ein wenig zu schnell. Fazit: Patrick Bards Romane wurden mehrfach ausgezeichnet. Bereits auf den ersten Seiten von Point of View ahnt man warum. In diesem Buch geht es um einen Jungen, der auf einen Link klickt und nach und nach in die Pornosucht abgleitet. Es erzählt von der Erotisierung einer Kindheit. Von Gewalt- und Pornographie-Darstellungen, die Ängste auslösen und mittelfristig zu Abstumpfung und Empathieverlust führen. Dass der Leser, auch wenn es sich um einen Roman handelt, viel über extreme Pornografie lernen kann, wird schnell klar. Es ist sicherlich immer ein Balanceakt bei solchen Büchern. Eine kleine Triggerwarnung wäre aber sicherlich angezeigt gewesen. Dennoch ist dieses Buch eine Bereicherung im Bereich Jugendbuch, zumal Pornosucht noch immer zu den absoluten Tabuthemen gehört. Das Buch ist sicherlich ein Instrument der Reflektion und der Erkenntnis. Junge Menschen sollten dabei aber begleitet werden.